19.05.2022

Aus der Rechtsprechung

Rechtsprechungsüberblick

Nachfolgende Texte wurden in ähnlicher Form in der InsbürO - einer Zeitschrift für die Insolvenzpraxis - veröffentlicht. Die Zeitschrift erscheint im Carl Heymanns Verlag, Wolters Kluwer Deutschland GmbH. Unsere Mitarbeiterin Michaela Heyn ist Schriftleiterin und Mitherausgeberin dieser Zeitschrift.

 

Maiheft 2022

 

Eröffnungsverfahren

InsbürO 2022, 208: Frage der Verfahrensfähigkeit der führungslosen GmbH als Eröffnungsvoraussetzung

AG Hannover, Beschl. v. 30.11.2021 – 903 IN 451/21 – 1, ZInsO 2022, 100

Aus der Begründung:

Voraussetzung für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist … neben der in § 11 InsO besonders geregelten Insolvenzfähigkeit (= Parteifähigkeit) des Schuldners auch dessen Prozess-/Verfahrensfähigkeit (§ 4 InsO, § 51 ZPO) als die Fähigkeit, selbst oder durch bestellte Vertreter Prozesshandlungen wirksam vor- und entgegenzunehmen (…). Ein Insolvenzantrag, der sich auf einen nicht prozess-/verfahrensfähigen Schuldner bezieht, ist unzulässig und unterliegt der Zurückweisung (vgl. BGH, Beschl. v. 07.12.2006 – IX ZB 257/05, Rn. 11, …). … Nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GmbHG wird die Gesellschaft, die sich im Zustand der Führungslosigkeit befindet, für den Fall, dass ihr gegenüber Willenserklärungen abgegeben oder Schriftstücke zugestellt werden, zwar durch die Gesellschafter vertreten. Es handelt sich aber (nur) um eine Regelung zur subsidiären Passivvertretung der GmbH durch ihre Gesellschafter als Empfangsvertreter (…). § 35 Abs. 1 Satz 2 GmbH verleiht den Gesellschaftern damit keine Rechtsmacht zur Aktivvertretung und stellt folglich auch keine abweichende Regelung zur Prozess-/Verfahrensfähigkeit der GmbH dar (vgl. BGH, Urt. v. 25.10.2010 – II ZR 115/09, Rn. 13, …). … Wenn … an der Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfahrensfähigkeit uneingeschränkt festgehalten wird, so bedeutet dies nicht, dass ein Antrag nach § 15 Abs. 1 Satz 2 InsO bei Führungslosigkeit umgehend zurückzuweisen wäre. Es handelt sich um einen behebbaren Zulässigkeitsmangel, sodass dem Antragsteller zunächst ausreichend Gelegenheit zu geben ist, für die Verfahrensfähigkeit zu sorgen (…), sei es durch Beantragung der Bestellung eines Verfahrenspflegers nach § 4 InsO, § 57 ZPO, durch Beantragung der Bestellung eines Notgeschäftsführers nach § 29 BGB beim Registergericht oder durch entsprechende gesellschaftsrechtliche Maßnahmen …

 

 

Insolvenzverfahren natürlicher Personen

InsbürO 2022, 208 f.: Keine Schadensersatzansprüche aus § 92 InsO gegen den Schuldner

BGH, Urt. v. 21.10.2021 - IX ZR 265/20, WKRS 2021, 50681

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)

Amtliche Leitsätze:

  1. Der Insolvenzverwalter ist nicht berechtigt, Schadensersatzansprüche der Gläubiger gegen den Insolvenzschuldner geltend zu machen, die auf einer Verkürzung der Insolvenzmasse durch die Verschiebung von Vermögensbestandteilen vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens beruhen.
     
  2. Hat der Insolvenzschuldner vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Bestandteile seines Vermögens verschoben, um sie den Insolvenzgläubigern vorzuenthalten, begründen unrichtige Angaben hierzu nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine selbständig geltend zu machenden Neuverbindlichkeiten.
     

Zum Sachverhalt:

Der Insolvenzverwalter wirft dem Schuldner die Verschiebung von Geldmitteln vor, die Weitergabe eigenen Geldes an Dritte (Schaden: mehr als 5 Mio. €).
 

Aus der Begründung:

Rn. 9: Die Vorschrift des § 92 Satz 1 InsO betrifft den Fall, dass die Insolvenzmasse durch eine Handlung verkürzt worden ist, die nach den Bestimmungen des Haftungsrechts Schadensersatzansprüche der Insolvenzgläubiger begründet. Diese Ansprüche dürfen während der Dauer des Insolvenzverfahrens nicht von den einzelnen Gläubigern, sondern nur vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden. Sie gehören zur Insolvenzmasse. … Die Vorschrift dient folglich dazu, den ungestörten Ablauf des Insolvenzverfahrens zu sichern und die Insolvenzmasse zugunsten aller Gläubiger zu vervollständigen (…). … Rn. 10: Für Schadensersatzansprüche der Insolvenzgläubiger gegen den Schuldner persönlich treffen die vorstehenden Überlegungen nicht zu. Vermögensverschiebungen des Schuldners vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens können Schadensersatzansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB (…) oder nach § 826 BGB begründen. Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens können die Insolvenzgläubiger derartige Ansprüche jedoch nicht mehr außerhalb des Insolvenzverfahrens verfolgen. Es handelt sich dann nämlich um Insolvenzforderungen i.S.d. § 38 InsO, die gem. § 87 InsO nur nach den Vorschriften des Insolvenzverfahrens, nämlich durch Anmeldung zur Tabelle (§§ 174 ff. InsO), verfolgt werden können. … Rn. 11: … Die Vorschrift des § 92 InsO erfasst Ansprüche der Insolvenzgläubiger gegen Gesellschafter oder Organe der insolventen Schuldnerin oder gegen Dritte (…), nicht jedoch Ansprüche gegen den Schuldner selbst. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das masseschädigende Verhalten vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens stattgefunden hat. … Rn. 13: Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen verfügt der Insolvenzschuldner regelmäßig nicht mehr über Mittel, aus denen er einen vom Verwalter für die Insolvenzgläubiger geltend gemachten Zahlungsanspruch befriedigen könnte. Rn. 14: … Aus einem Zahlungstitel gegen den Schuldner könnte der Verwalter regelmäßig nur in solches Vermögen vollstrecken, welches schon gem. § 80 Abs. 1 InsO seiner Verwaltung und Verfügung unterliegt. … Rn. 20: Für den hier in Rede stehenden Fall einer Masseverkürzung vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hält die Rechtsordnung schließlich andere Mittel bereit: … Mitteln des Insolvenzanfechtungsrechts … Schadensersatzanspruch …

 

InsbürO 2022, 209: Corona-Pandemie und Immobilienvermögen als Aspekte beim Widerruf der Anwaltszulassung wegen Vermögensverfalls

BGH, Beschl. v. 03.11.2021 – AnwZ (Brfg) 29/21, ZInsO 2022, 86

Aus der Begründung:

Rn. 9: Das vom Kläger im Zulassungsantrag behauptete, selbst bewohnte Immobilienvermögen kann nicht berücksichtigt werden. Immobilienvermögen ist nur von Relevanz, wenn es dem Betroffenen zum maßgeblichen Zeitpunkt des Zulassungswiderrufs als liquider Vermögenswert zur Tilgung seiner Verbindlichkeiten zur Verfügung gestanden hat (…). Rn. 10: … Die allein auf das Insolvenzverfahren zugeschnittenen Regelungen des … COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz haben auf das Verfahren über den Widerruf der Anwaltszulassung wegen Vermögensverfalls keinen Einfluss. … Rn. 11: … Selbst auferlegte Beschränkungen des in Vermögensverfall geratenen Rechtsanwalts sind … grds. nicht geeignet, eine Gefährdung der Rechtsuchenden auszuschließen (…).

 

 

Unternehmensinsolvenzen

InsbürO 2022, 209 f.: Gewerbeuntersagung bei Freigabe der selbständigen Tätigkeit

VGH, Beschl. v. 28.10.2021 – 22 ZB 21.1923, ZInsO 2021, 2666

Leitsatz des Gerichts:

§ 12 Satz 2 hat ebenso wie § 12 Satz 1 GewO (dazu BVerwG, Urt. v. 15.04.2015 – 8 C 6/14, … ZInsO 2015, 1625) keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit einer Gewerbeuntersagung wegen einer auf ungeordneten Vermögensverhältnissen beruhenden Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden, die bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlassen wurde.
 

Aus der Begründung:

Zusammenfassend und zugespitzt formuliert: § 12 Satz 1 GewO räumt dem Gewerbetreibenden eine "zweite Chance" (…) bzw. eine "Chance auf Neuanfang" (…) ein, indem eine sonst auszusprechende Gewerbeuntersagung jedenfalls zeitweise zurückgestellt wird. Realisieren sich die mit dieser zweiten Chance verknüpften (Sanierungs-)Hoffnungen aber nicht, weil im Gegenteil neue, die Unzuverlässigkeit begründende Tatsachen entstehen, so lebt gleichermaßen auch das Gefährdungspotenzial der weiteren Gewerbeausübung wieder auf und muss (nun doch) durch eine Gewerbeuntersagung beseitigt werden (§ 12 Satz 2 GewO). Damit wird zugleich aber auch deutlich, dass sich die Regelungswirkung des § 12 Satz 2 GewO in dieser eng begrenzten Ausnahme zu § 12 Satz 1 GewO (…) erschöpft (…). Ein … Umkehrschluss, dass damit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits untersagte, später aber nach § 35 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 InsO freigegebene Gewerbetätigkeiten ebenfalls miterfasst sein sollen, sodass die (noch nicht bestandskräftige) Untersagung nachträglich rechtswidrig werden würde, steht … im Widerspruch zum Willen des Gesetzgebers. Denn dann hätte die Ausnahmevorschrift des § 12 Satz 2 GewO einen weitergehenden, diesen "überschießenden" Anwendungs- und Regelungsbereich als die eigentliche "Regelvorschrift" des § 12 Satz 1 GewO.

 

InsbürO 2022, 210: Haftung des Geschäftsführers von geschäftsführender Kommanditisten-GmbH gegenüber GmbH & Co KG

OLG Hamburg, Urt. v. 17.09.2021 – 11 U 71/20, ZInsO 2021, 2744 (n. rkr.)

Leitsätze des Gerichts:

  1. Der Geschäftsführer einer geschäftsführenden Kommanditisten-GmbH haftet gegenüber der GmbH & Co. KG grds. nach denselben Grundsätzen wie der Geschäftsführer einer Komplementär-GmbH.
     
  2. Jedenfalls dann, wenn im Zusammenhang mit der behaupteten Pflichtverletzung kein Interessenkonflikt des Geschäftsführers der geschäftsführenden Kommanditistin bestand, kommt es nicht darauf an, dass er noch in weiteren Gesellschaften als Geschäftsführer eingesetzt war.
     
  3. Ein völlig untätiger Geschäftsführer darf sich nicht darauf zurückziehen, dass seine Mitgeschäftsführer ohnehin nicht auf ihn gehört hätten, solange es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass schon vorherige Interventionen durch ihn oder dritte Personen diese nicht davon abgehalten haben, die Gesellschaft vorsätzlich sittenwidrig zu schädigen (Abgrenzung von OLG Hamburg, Urt. v. 29.03.2018 - 11 U 174/16).
     

Aus der Begründung:

Die Argumentation des BGH zur Haftung des Geschäftsführers einer Komplementär-GmbH lässt sich auf die geschäftsführende Kommanditistin ohne Weiteres übertragen. …Sowohl das Interesse der Komplementär-GmbH als auch die Schutzbedürftigkeit der Kommanditgesellschaft sind für den Geschäftsführer ohne weiteres erkennbar. Das rechtfertigt es, die in der Organstellung begründete Verantwortlichkeit des Geschäftsführers und die hieran anknüpfende Haftung aus § 43 Abs. 2 GmbHG auf die Kommanditgesellschaft zu erstrecken.
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Revision wurde zugelassen im Hinblick auf die Frage, ob der Beklagte zu 2 als Geschäftsführer der geschäftsführenden Kommanditistin gegenüber der Schuldnerin haftet, obwohl diese Kommanditistin die Geschäftsführung auch in weiteren KG ausübte. Zum Zeitpunkt der Druckfreigabe war auch ein entsprechendes Verfahren beim BGH anhängig, und zwar zum AZ: II ZR 162/21.

 

InsbürO 2022, 210: Möglicher Wechsel in der Person eines Gläubigerausschussmitgliedes

LG Hildesheim, Beschl. v. 19.08.2021 – 6 T 53/21, ZInsO 2022, 19 (rkr.)

Aus der Begründung:

Die jeweils entsandte Person kann wechseln. Denn Mitglied im Gläubigerausschuss sind nicht die genannten natürlichen Personen, sondern die juristischen Personen des privaten und öffentlichen Rechts und die OHG als rechtsfähige Personengesellschaft i.S.d. § 14 Abs. 2 BGB. … Die Nennung der gesetzlichen Vertreter … ist daher nur eine informatorische Angabe nach derzeitigem Vertretungsstand (…). …
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

In der ZInsO 2022, 19, 20 ist eine Anmerkung zu dieser Entscheidung von RA Rimpf veröffentlicht worden. Er weist darauf hin, dass sich die Entscheidung mit den Stimmen in der Literatur deckt und das Gericht auf diese Weise eine Kontinuität im Gläubigerausschuss gewahrt sieht. Es sei lediglich darauf zu achten, dass jede jeweils zu einer weiteren Gläubigerausschusssitzung neu entsandte weitere Person über den bisherigen Sachstand hinreichend informiert sei.

 

           

Anfechtungsrecht

InsbürO 2022, 210: Rückforderung einer Barzahlung an den Gerichtsvollzieher

OLG Frankfurt, Urt. v. 12.10.2021 – 4 U 74/21, ZInsO 2022, 13

Zum Sachverhalt:

Die Insolvenzverwalterin begehrt von der Beklagten im Wege der Insolvenzanfechtung nach § 133 Abs. 1, 4 InsO Rückgewähr einer durch die Geschäftsführerin der Schuldnerin an den Gerichtsvollzieher im Wege einer Bargeldübergabe und anschließend an die Beklagte weitergeleiteten Zahlung von 5.318,79 €.
 

Aus der Begründung:

Von entscheidender Bedeutung für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz ist …, dass der Schuldner weiß oder jedenfalls billigend in Kauf nimmt, dass er seine (übrigen) Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen können wird. … Ob der Schuldner wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen zu können, hat der Tatrichter gem. § 286 ZPO unter Würdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls zu prüfen (BGH, Urt. v. 06.05.2021 – IX ZR 72/20, … Rn. 36 – 37). … Bestätigt wird das Bild der Zahlungseinstellung dadurch, dass die Schuldnerin trotz der von ihr als außerordentlich nachteilig und geradezu existenzbedrohend angesehenen Vollstreckungsmaßnahmen der Beklagten die … gesetzte Bedingung für eine Zustimmung zu dem Ratenzahlungsvorschlag der Schuldnerin, binnen 3 Tagen eine 1. Rate i.H.v. (nur) 300 € zu zahlen, nicht erfüllte.

 

InsbürO 2022, 210: Kein Anfechtungsausschluss nach COVInsAG für die Finanzverwaltung

LG Lüneburg, Urt. v. 12.01.2022 – 3 O 137/21, ZInsO 2022, 361 (rkr.)
 

Aus der Begründung:

Der Anfechtungsausschluss gem. § 2 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 lit. e) COVInsAG i.d.F. v. 27.03.2020 (…) hat zur Voraussetzung, dass es sich um kongruente Rechtshandlungen handeln muss, d.h. solche, die dem anderen Teil eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht haben, die dieser in der Art und zu der Zeit beanspruchen konnte. Daran fehlt es hier. Denn bei den streitgegenständlichen Zahlungen … handelte es sich um Drittschuldnerzahlungen auf die … Pfändungs- und Einziehungsverfügungen des Finanzamts …, mithin um Zahlungen im Rahmen einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme. Solche Zahlungen sind jedoch stets inkongruent (…). Auch § 2 Abs. 1 Nr. 5 COVInsAG i.d.F. v. 15.02.2021 (…) steht der Insolvenzanfechtung hier nicht entgegen. Danach gelten die bis zum 31.03.2022 erfolgten Zahlungen auf Forderungen aufgrund vom bis zum 28.02.2021 gewährten Stundungen als nicht gläubigerbenachteiligend, sofern über das Vermögen des Schuldners ein Insolvenzverfahren bis zum Ablauf des 18.02.2021 noch nicht eröffnet worden ist. Dabei kommt der Vorschrift nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers auch Rückwirkung hinsichtlich solcher Stundungsvereinbarungen zu, welche vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossen worden sind (BT-Drucks. 19/26245, S. 17). Allerdings ist die Vorschrift auf die streitgegenständlichen Drittschuldnerzahlungen … nicht anwendbar: Im Gegensatz zu § 2 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 lit. e) COVInsAG a.F. erfasst die anfechtungsrechtliche Privilegierung des § 2 Abs. 1 Nr. 5 COVInsAG n.F. nämlich gerade nicht mehr jegliche Zahlungserleichterungen, sondern beschränkt sich ihrem eindeutigen Wortlaut nach auf Stundungen. … Der Gesetzgeber hatte demgemäß vertragliche, d.h. einvernehmliche Zahlungserleichterungen auf der Ebene des materiellen Rechts vor Augen, nicht aber einseitige Erleichterungen auf der Ebene der Anspruchsdurchsetzung. Die Aussetzung der Vollstreckung betrifft indes die zuletzt genannte Ebene, weshalb sie der Stundung auch nicht ohne Weiteres gleichgestellt werden kann. … Schließlich ist das Anfechtungsprivileg des § 2 Abs. 1 Nr. 5 COVInsAG n.F. hier auch deshalb nicht anwendbar, weil es sich beim Finanzamt … nicht um einen vertraglichen Gläubiger handelt (…). … Dementsprechend stellt die Gesetzesbegründung zu § 2 Abs. 1 Nr. 4 COVInsAG a.F. ausschließlich auf den Schutz vertraglicher Gläubiger ab (BT-Drucks. 19/18110, S. 24).
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Eine weitere Entscheidung zu dem komplexen Thema der Anwendung und Auslegung der vier Fassungen des COVInsAG. Darin werden im Wesentlichen drei Aspekte angesprochen: Zum einen seien inkongruente Zahlungen nicht geschützt, so dass Leistungen von Drittschuldnern auf Vollstreckungsmaßnahmen weiter angefochten werden können. Zum anderen arbeitet das LG Lüneburg anhand der Gesetzesmaterialien die erforderliche Unterscheidung zwischen Zahlungserleichterungen und Stundungen heraus und erläutert, dass nur Letztere ein Anfechtungsschutz bieten. Und letztlich greift das Gericht die auch vom LG München (Urt. v. 13.07.2021 – 6 O 17571/20, Rn. 21 – 25, InsbürO 2021, 415 = ZInsO 2021, 1817) vertretene Ansicht auf, dass der Gesetzgeber den Schutz vertraglicher Gläubiger mit den Regelungen im COVInsAG im Blick hatte, die Finanzverwaltung davon aber nicht umfasst sei.

 

 

Arbeitsrecht

InsbürO 2022, 211: Vollständige Urlaubsabgeltung als Masseverbindlichkeit bei Inanspruchnahme der Arbeitsleistung durch vorl. starken Insolvenzverwalter

BAG, Schlussurteil v. 25.11.2021 – 6 AZR 94/19, ZInsO 2022, 371

(6. Senat = u.a. zuständig für insolvenzrechtliche Fragestellungen)

Aus der Begründung:

Rn. 1: Die Parteien streiten … über einen Anspruch des Klägers auf Urlaubsabgeltung. … Rn. 10: … Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er nach § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. … Rn. 11: Der Abgeltungsanspruch ist eine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Satz 1 InsO. Rn. 12: § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO sieht die Begründung von Masseverbindlichkeiten vor, "soweit" der starke vorläufige Insolvenzverwalter die Gegenleistung in Anspruch genommen hat. … Rn. 15: Der 9. Senat des BAG hatte bezogen auf § 209 Abs. 2 Nr. 3 InsO angenommen, Ansprüche auf Urlaubsabgeltung könnten nicht in voller Höhe als Neumasseverbindlichkeit berichtigt werden, weil dadurch die Masse nicht angereichert werde. Vielmehr sei nur der auf die Dauer der tatsächlich entgegengenommenen Arbeitsleistung entfallende "anteilige" Geldwert des Urlaubs als Neumasseverbindlichkeit zu berichtigen (BAG v. 21.11.2006 – 9 AZR 97/06, Rn. 25 ff., …). Rn. 16: Auf Anfrage des erkennenden Senats … (…) hat der 9. Senat des BAG … erklärt, dass er an dieser Auffassung nicht festhalte und sich der Ansicht des erkennenden Senats bzgl. der insolvenzrechtlichen Einordnung von Urlaubsabgeltungsansprüchen auch in Bezug auf § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO anschließe (BAG v. 16.02.2021 – 9 AS 1/21, ZInsO 2021, 596 Rn. 7 ff. m.w.N.). … Rn. 20: Der von Stimmen im Schrifttum geforderten zeitanteiligen Aufteilung des Urlaubsabgeltungsanspruchs (…) steht schon entgegen, dass dieser Anspruch – im Gegensatz zum Anspruch auf Entgelt für Arbeitsleistung – keinem insolvenzrechtlichen Zeitraum zuordenbar ist (…).

 

 

Insolvenztabelle

InsbürO 2022, 211 f.: Beweislast des Unterhaltsgläubigers für Verletzung der Unterhaltspflicht bei Insolvenz des Unterhaltsschuldners

OLG Brandenburg, Beschl. v. 06.09.2021 – 13 UF 83/18, WKRS 2021, 46672 (rkr.)

Aus der Begründung:

Der Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs aus § 823 Abs. 2 BGB wegen vorsätzlicher Verletzung der Unterhaltspflicht muss … beweisen, dass in bestimmten Zeiträumen eine gesetzliche Unterhaltspflicht bestand, sich der Schuldner dieser Unterhaltspflicht entzog und dadurch der Lebensbedarf des Unterhaltsberechtigten gefährdet war oder ohne die Hilfe anderer gefährdet gewesen wäre. … Die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners ist als gesetzliche Voraussetzung der Unterhaltspflicht ebenfalls Tatbestandsmerkmal des § 170 StGB (…), mithin vom Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. mit § 170 StGB zu beweisen. Da das Schutzgesetz ein vorsätzliches Handeln verlangt und nach § 302 Nr. 1 InsO a.F. (Art. 103h EGInsO) nur eine vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung von der Restschuldbefreiung ausgenommen ist, ist der Gläubiger schließlich für den zumindest bedingten Vorsatz des Unterhaltsschuldners beweispflichtig (BGH …). Allein aufgrund der Titulierung eines Unterhaltsanspruchs steht nicht zugleich fest, dass der Schuldner, der die titulierten Beträge nicht oder nur tlw. zahlt, seine Unterhaltspflicht verletzt und den objektiven Tatbestand des § 170 StGB erfüllt. … Für einen schlüssigen Vortrag bzgl. der objektiven Voraussetzungen eines Anspruchs … reicht auch der Hinweis auf die Feststellung der Forderung - mit Ausnahme der Eigenschaft aus vorsätzlicher begangener unerlaubter Handlung resultierend - zur Insolvenztabelle nicht aus. Erforderlich ist die Darlegung sämtlicher objektiver und subjektiver Tatbestandsmerkmale einer Unterhaltspflichtverletzung (vgl. OLG Hamm ZInsO 2014, 1337).

 

InsbürO 2022, 212: Möglichkeit der vorzeitigen Erteilung der Restschuldbefreiung durch Forderungsrücknahme in der Restschuldbefreiungsphase

AG Aurich, Beschl. v. 12.11.2021 - 9 IK 370/16, ZInsO 2022, 370
 

Zum Sachverhalt:

Es wurde ein Antrag auf vorzeitige Erteilung der Restschuldbefreiung gestellt. Der Schuldnervertreter war der Ansicht, dass durch die Rücknahme der Forderungsanmeldung der Gläubigerin lfd. Nr. 3 Vollbefriedigung der zur Tabelle festgestellten Insolvenzgläubiger eingetreten sei.
 

Aus der Begründung:

Die Antragsrücknahme der Forderungsanmeldung der Gläubigerin lfd. Nr. 3 löst … keine Erfüllungswirkung aus. Die Rücknahme der Anmeldung stellt keinen Verzicht auf die Forderung dar, sondern lediglich einen Verzicht auf die weitere Teilnahme an der Verteilung und – sofern auf die gesamte Forderung verzichtet ist – auf die weitere Teilnahme am Insolvenz- bzw. Restschuldbefreiungsverfahren (vgl. Hamburger Kommentar zum Insolvenzrecht, 8. Aufl. 2021, § 174 Rn 25; FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 178 Rn 24.). Die Voraussetzungen der vorzeitigen Erteilung der Restschuldbefreiung nach drei Jahren gem. § 300 Abs. 1 S. 2 Ziff. 2 InsO. a. F. haben nicht vorgelegen. … Erforderlich wäre eine Quotenzahlung von mindestens 35 %, mithin 15.889,64 €. …. Dem Schuldner ist … die vorzeitige Restschuldbefreiung zu erteilen, da die Voraussetzungen des § 300 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 InsO a.F. erfüllt sind. Am … sind fünf Jahre der Abtretungsfrist verstrichen. Die Kosten des Verfahrens sind gedeckt.

 

 

Vertragsverhältnisse

InsbürO 2022, 212: Unwirksame Klausel im Mietvertrag über Photovoltaikanlagen

BGH, Urt. v. 11.11.2021 – IX ZR 237/20, ZInsO 2022, 104

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)

Leitsätze des Gerichts:

  1. Eine formularmäßige Bestimmung, mit der die Fälligkeit der vom Verwender geschuldeten Mietzahlungen von der Inbetriebnahme einer Anlage abhängig gemacht wird, ist unwirksam, wenn die Inbetriebnahme ausschließlich oder tlw. von einer freien Entscheidung des Verwenders abhängt.
     
  2. Ob eine Mietzahlung eine (tlw.) unentgeltliche Leistung darstellt, ist in erster Linie nach dem Umfang der mietvertraglich vereinbarten Rechte und Pflichten zu bestimmen.
     

Zum Sachverhalt:

Der Insolvenzverwalter verlangt im Wege der Anfechtung einer unentgeltlichen Leistung einen Betrag von rund 47.000 €, weil der Mietzins mangels Inbetriebnahme nicht geschuldet gewesen sei.
 

Aus der Begründung:

Rn. 17: Dem Beklagten stand ein Zahlungsanspruch i.H.v. monatlich 1.000,79 € aufgrund der mit der Schuldnerin abgeschlossenen Mietverträge zu. … Rn. 18: Der Mietzahlungsanspruch entstand mit Vertragsabschluss als jeweils monatlich fälliger Anspruch (…) mit Beginn der jeweiligen Nutzungsüberlassung (…). Die Regelung in Nr. 1 Buchst. a MV, wonach das Mietverhältnis "auf die Dauer von 10 Jahren ab dem Tag der Inbetriebnahme der Anlage" begründet wird, ist hinsichtlich des Fristbeginns unwirksam. … Rn. 43: … Die Schuldnerin hat sich im Vertrag … keiner zeitlichen Bindung unterworfen und hat es damit in der Hand, den Beginn der Stromerzeugung beliebig hinauszuschieben. Dem stehen die Interessen des Beklagten an einer eindeutigen Vertragsgestaltung gegenüber. Er ist während der nicht absehbaren Dauer des aus Nr. 1 Buchst. a MV folgenden Schwebezustands in seiner wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit beeinträchtigt, ohne sicher sein zu können, dass er jemals in den Genuss der vereinbarten Miete gelangen wird. … Rn. 55: … Nach der Präambel des Mietvertrags besteht die Hauptleistungspflicht des Beklagten darin, das Nutzungs- und Mitbenutzungsrecht sowie die Ausübungsbefugnis an der Dachfläche für den Bereich auf die Schuldnerin zu übertragen, in dem seine Module installiert sind. … Die Klage ist abzuweisen.

 

InsbürO 2022, 212 f.: (Un-)Wirksamkeit von insolvenzbedingter Lösungsklausel bei Verträgen über Schülerbeförderung

OLG Celle, Urt. v. 25.11.2021 – 11 U 43/21, ZInsO 2022, 300

Amtlicher Leitsatz:

Eine insolvenzbedingte Lösungsklausel ist in Verträgen über die Schülerbeförderung unwirksam.

Aus der Begründung:

Die Zielrichtung der InsO und insbesondere der §§ 103 ff. InsO ist … eine ganz andere: Zur Verbesserung der Fortführungsperspektive des Schuldnerunternehmens soll der Handlungsspielraum des Insolvenzverwalters erweitert werden; allein seiner Entscheidung soll es obliegen, ob ein gegenseitiger Vertrag fortgeführt wird oder nicht - und nicht der Entscheidung des Vertragspartners, der sich womöglich ohne Weiteres auf ein insolvenzabhängiges Kündigungsrecht berufen könnte (…). Dieser Gesetzeszweck darf bei der Auslegung des § 648a BGB nicht übergangen werden.
     

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Revision wurde zugelassen, weil die rechtliche Behandlung insolvenzbedingter Lösungsklauseln nach wie vor nicht abschließend geklärt sei. Nach dem Inkrafttreten des § 648a BGB stelle sich - jenseits von Bauverträgen, für deren rechtliche Beurteilung das Urteil des VII. Zivilsenats vom 07.04.2016 (VII ZR 56/15, ZInsO 2016, 1062) eine endgültige Klärung herbeigeführt habe - insbesondere die Frage, ob die Insolvenz des Unternehmers stets einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung darstelle und daher eine insolvenzbedingte Lösungsklausel zu rechtfertigen vermag. Von der Beantwortung dieser Frage hänge das Bestehen des Klageanspruchs vollständig ab, weswegen eine etwaige Beschränkung der Revision nicht möglich sei. Die Revision wurde auch eingelegt und ist bei Druckfreigabe Anfang April beim BGH unter dem AZ: IX ZR 213/21 anhängig.

 

InsbürO 2022, 213: Abschluss von Kaufvertrag durch Insolvenzverwalter als sittenwidrige Gläubigergefährdung

OLG Saarbrücken, Urt. v. 13.10.2021 – 5 U 20/21, ZInsO 2022, 155 (rkr.)

Aus der Begründung:

Speziell der Beklagte (= vorläufiger Insolvenzverwalter der Schuldnerin und Insolvenzverwalter der Zweitschuldnerin) kannte die wirtschaftlichen Gegebenheiten der Zweitschuldnerin, er wusste aber insbesondere auch, dass die Schuldnerin – als UG (haftungsbeschränkt) – über kein nennenswertes Eigenkapital verfügte, vielmehr schlicht eine "leere Hülle" war, mit der das Geschäftsmodell der Zweitschuldnerin durch dieselben Akteure fortgesetzt werden sollte, und dass diese auch nicht einmal den – für sich genommen moderaten, mangels Gegenwert jedoch zweifellos überhöhten – Kaufpreis i.H.v. rd. 25.000 € auf einen Schlag bezahlen konnte. Ihm musste deshalb klar sein, dass das Auftreten einer solchen, von Anfang an ausschließlich mit erheblichen Verbindlichkeiten belasteten Gesellschaft ohne jede weitere Haftungsmasse andere Gläubiger massiv gefährdete. … Die Voraussetzungen des § 819 Abs. 1 BGB sind vorliegend … erfüllt; denn der Beklagte hatte … zweifelsfrei die insoweit notwendige positive Kenntnis von den Tatsachen, die zur Sittenwidrigkeit des Vertrags und damit zur Rechtsgrundlosigkeit seines Erwerbes geführt hat.

 

 

Steuerrecht

InsbürO 2022, 205 f.: Massezugehörigkeit eines Anspruches auf Einkommenssteuererstattung nach Ablauf der Abtretungsfrist

BGH, Urt. v. 13.01.2022 - IX ZR 64/21, ZInsO 2022, 528

Leitsatz des Gerichts:

Wird dem Schuldner im laufenden Insolvenzverfahren die Restschuldbefreiung erteilt, gehört der Anspruch auf Erstattung von Einkommensteuerzahlungen zur Insolvenzmasse und nicht zum insolvenzfreien Neuerwerb des Schuldners, wenn der die Erstattungsforderung begründende Sachverhalt vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder während des Verfahrens vor Ablauf der Abtretungsfrist verwirklicht worden ist.
 

Anmerkung RiAG a.D. Ulrich Schmerbach, Göttingen:

Der vorliegende Sachverhalt betrifft ein sogenanntes „asymmetrisches“ Verfahren, von dem man dann spricht, wenn die Laufzeit der Abtretungserklärung gem. § 287 Abs. 2 InsO beendet ist, ohne dass das Insolvenzverfahren auch aufgehoben ist. Regelungen dazu enthält nunmehr (tlw.) die Vorschrift des § 300a InsO. Die Entscheidung stellt klar, dass es für die Massezugehörigkeit von Ansprüchen nicht auf den Zeitpunkt der Geltendmachung ankommt, sondern auf die Verwirklichung des den Anspruch begründen Sachverhaltes. An diesem Ergebnis ändert auch nichts die auf den folgenden Sachverhalt noch nicht anwendbare Vorschrift des § 300a InsO (zu der der BGH längere Ausführungen macht, die hier aus Platzgründen aber nicht wiedergegeben werden).

 

 

Vollstreckungsrecht

InsbürO 2022, 206 f.: Aussetzung der Vollziehung eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses während der Restschuldbefreiungsphase

BGH, Beschl. v. 02.12.2021 – IX ZB 10/21, ZInsO 2022, 772

Leitsatz des Gerichts:

Die Verstrickung einer gepfändeten Forderung kann während des Restschuldbefreiungsverfahrens dadurch beseitigt werden, dass das Vollstreckungsgericht die Vollziehung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses bis zur Entscheidung über die Restschuldbefreiung aussetzt, ohne die Pfändung insgesamt aufzuheben (Fortführung von BGH, Beschl. v. 19.11.2020 - IX ZB 14/20, ZInsO 2021, 784).
 

Anmerkung RiAG a.D. Ulrich Schmerbach, Göttingen:

§ 89 Abs. 1 InsO bestimmt, dass Zwangsvollstreckungen für einzelne Insolvenzgläubiger während der Dauer des Insolvenzverfahrens weder in die Insolvenzmasse noch in das sonstige Vermögen des Schuldners zulässig sind. Streitig war, wie mit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgten Pfändungs-/ und Überweisungsbeschlüssen umzugehen ist. Ein Verstoß gegen das Vollstreckungsverbot verhindert nämlich nicht die öffentlich-rechtliche Verstrickung. Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 21.09.2017 (IX ZR 40/17, InsbürO 2017, 506 = ZInsO 2017, 2267) konstatiert, dass es zur Beseitigung der Verstrickung nicht der Aufhebung des Pfändungsbeschlusses bedarf, sondern vielmehr eine Aussetzung der Vollziehung genüge. Dies hat heftigen Widerspruch hervorgerufen, da die ZPO eine Aussetzung nicht vorsehe. Diesem formalen Argument hat der BGH im Beschluss v. 19.11.2011 (IX ZB 14/20, InsbürO 2021, 213 = ZInsO 2021, 784) das sich aus Art. 14 GG folgende Recht der Vollstreckungsgläubiger entgegengesetzt, den Rang nicht durch eine Aufhebung zu verlieren. Diese Rechtsprechung setzt der Senat konsequent für das in der Wohlverhaltensperiode gem. § 294 Abs. 1 InsO geltende Vollstreckungsverbot fort.   

 

 

Vergütungsrecht

InsbürO 2022, 213: Keine Fälligkeit der Insolvenzverwaltervergütung bei bestätigtem Insolvenzplan, aber Fortdauer der Tätigkeit

BGH, Beschl. v. 11.11.2021 – IX ZB 19/20, ZInsO 2022, 164

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)
 

Amtliche Leitsätze:

  1. Im Allgemeinen wird der Anspruch des Insolvenzverwalters nach Erledigung der zu vergütenden Tätigkeit fällig. Eine Vergütungsfestsetzung für einzelne Zeitabschnitte eines Insolvenzverfahrens sehen weder die InsO noch die InsVV vor.
     
  2. Solange der Insolvenzverwalter weitere Verwertungsmaßnahmen durchführt, ist seine Tätigkeit nicht erledigt.
     
  3. Vereinbarungen über eine von den gesetzlichen Regelungen abweichende Fälligkeit der Vergütung des Insolvenzverwalters können nicht Inhalt eines Insolvenzplans sein (Ergänzung BGH, Beschl. v. 16.02.2017 – IX ZB 103/15, …).
     

Aus der Begründung:

Rn. 17: Die Festsetzung der Vergütung erfordert die genaue Überprüfung und Beurteilung aller für einen Zu- oder Abschlag in Frage kommenden Umstände, insbesondere der vom (vorläufigen) Insolvenzverwalter beantragten Zuschläge (…). Diese Prüfung hängt ebenso wie die Bemessung der Höhe der Zu- und Abschläge einschließlich der stets erforderlichen Gesamtwürdigung (…) davon ab, dass der Umfang der Tätigkeit des Verwalters und die im Rahmen der Insolvenzverwaltung angefallenen Aufgaben abschließend bekannt sind. … Rn. 19: Der Insolvenzplan sieht ausdrücklich vor, dass das Insolvenzverfahren abweichend von § 258 Abs. 1 InsO nicht aufgehoben, sondern das Regelverfahren fortgesetzt werden soll. Die Verwertung des schuldnerischen Vermögens dauert weiter an. … Rn. 25: Die Regelung im darstellenden Teil des Insolvenzplans … betrifft ebenso wie die Regelung im gestaltenden Teil … nicht die Fälligkeit der Insolvenzverwaltervergütung. … Unberührt bleibt … die Möglichkeit, Vorschüsse auf die Vergütung … festzusetzen.

 

InsbürO 2022, 213 f.: Erstattung von Zustellungskosten erst ab der 11. Zustellung

AG Ludwigshafen am Rhein, Beschl. v. 14.02.2022 – 3 b IK 26/21 Lu, ZInsO 2022, 597
 

Aus der Begründung:

Auch dem erkennenden Gericht erscheint es rechtspolitisch bedenklich, wenn Dritte vom Insolvenzgericht mit hoheitlichen Aufgaben betraut werden, ohne diese dafür zu vergüten. … Danach darf richterliche Rechtsfortbildung nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigenen materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen. … Die Begrenzung des Auslagenersatzes auf Zustellungen ab der 11. Zustellung bezieht sich auf die Zustellungen des Insolvenzverwalters in der jeweiligen Instanz. Bei der Berechnung der Anzahl der Zustellungen im Verfahren i.S.d. § 4 Abs. 2 Satz 2 InsVV i.V.m. Nr. 9002 GKG-KostVerz bleiben die von der Geschäftsstelle des Insolvenzgerichts bewirkten Zustellungen mithin außer Betracht (a.A. AG Hamburg, ZVI 2022, 86, 87; Schmidt, ZVI 2022, 60, 60). … Aus dem Sinn und Zweck der Begrenzung der Ansatzfähigkeit von Zustellungen ergibt sich, dass Zustellungen des Gerichts (in originärer Anwendung des GKG) und des Insolvenzverwalters (in über § 4 InsVV vermittelter Anwendung des GKG-KostVerz) getrennt voneinander zu betrachten sind.
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Das AG Ludwigshafen verweist auf die Entscheidung des AG Hamburg, das die Auffassung vertritt, die durch das Gericht veranlassten Zustellungen sind einheitlich bei der Frage der Erstattungsfähigkeit ab der 11. Zustellung zu betrachten. RiAG Frind hat entsprechend zu diesem Beschluss des AG Ludwigshafen in der Ausgabe 12/2022 der ZInsO Stellung genommen und führt u.a. aus: „Die Entscheidung des AG Ludwigshafen erkennt denn auch, dass der Insolvenzverwalter „hoheitlich“ tätig wird, will dann aber die daraus eigentlich zwingende – auch berufsrechtlich-dogmatisch gebotene – Schlussfolgerung nicht ziehenn. … D.h. der „sklavenähnlich“ Beauftragte sitzt auslagenersatzmäßig mit im gerichtlichen Boot, ein „auslagenkostenersatzfreies“ eigenes fährt er nicht.“

                  

InsbürO 2022, 214: Keine Erstattung der Zustellungsauslagen bei Scheitern an 5 %-Grenze

AG Stade, Beschl. v. 10.01.2022 – 73 IK 6/21, ZInsO 2022, 551 (rkr.)

Aus der Begründung:

Bei der Heranziehung der Entwicklung der Rechtsprechung des BGH zur Auslagenfrage von Zustellungen (vgl. Entscheidungen v. 21.12.2006 – IX ZB 129/05, ZInsO 2007, 202, v. 08.03.2012 – IX ZB 162/11, ZInsO 2012, 753, und v. 21.03.2013 – IX ZB 209/10, ZInsO 2013, 894) ergibt sich … der Grundsatz, dass die vom Insolvenzgericht gem. § 8 Abs. 3 InsO an den Insolvenzverwalter übertragenen Zustellungen als gerichtliche Aufgabe zu vergüten sind, wenn sie einen nicht nur unerheblichen Aufwand erfordern. … Dementsprechend ist Auslagenerstattung für den vollen Aufwand festzusetzen, wenn der Aufwand mehr als unerheblich ist. Hingegen ist eine Auslagenerstattung zu versagen, wenn der Aufwand unerheblich war. Die in der Entscheidung des BGH v. 21.03.2013 – IX ZB 209/10, ZInsO 2013, 894 – benannte Wertgrenze von 5 % der Gesamtvergütung führt dazu, dass bei einem Zustellungsaufkommen von zehn Zustellungen mit insgesamt 35 € netto die Mindestvergütung von 1.120 € netto unterhalb der Grenze von 5 % der Gesamtvergütung liegt.

 

InsbürO 2022, 214: Keine Erstattung von Zustellungsauslagen neben Auslagenpauschale

AG Potsdam, Beschl. v. 27.01.2022 – 6.50 IK 110/21, ZInsO 2022, 549 (rkr.)
 

Leitsatz aus der Entscheidung:

Ein Insolvenzverwalter kann einen Ersatz von Zustellungskosten gem. § 4 Abs. 2 Satz 2 InsVV nicht verlangen, wenn er hinsichtlich des generellen Auslagenersatzes die Möglichkeit einer Pauschalierung gem. § 8 Abs. 3 InsVV gewählt hat.
 

Aus der Begründung:

Diese Regelung (§ 4 Abs. 2 Satz 2 InsVV) entstammt einem Vorschlag des Neuen Insolvenzverwaltervereinigung Deutschlands e.V. (NIVD e.V.) und des Verband Insolvenzverwalter Deutschlands e.V. (VID e.V.) zur Reform der InsVV v. 19.11.2019 (…). Nach diesem Vorschlag sollte systematisch der Ausgleich der Belastungen eines Insolvenzverwalters aus den ihm übertragenen Zustellungen dadurch erfolgen, dass der entsprechende Betrag als Pauschale wie andere besondere Kosten des Insolvenzverwalters behandelt werden. Die Kosten aus den übertragenen Zustellungen sollten somit auf eine Stufe mit bspw. Reisekosten entsprechend § 4 Abs. 2 Satz 1 InsVV gestellt werden. … Deren Reformvorschlag hat hinsichtlich der besonderen Kosten aus einer zusätzlichen Haftpflichtversicherung i.S.v. § 4 Abs. 3 InsVV ausdrücklich vorgesehen, dass die Kosten einer solchen Mehrversicherung neben einem Pauschbetrag nach § 8 Abs. 3 InsVV zu erstatten wären. Das Problem einer Auslagenpauschale neben einem Einzelersatz besonderer Kosten wurde daher also im Rahmen des Reformvorschlags erkannt und besonders behandelt. Indem dieser Reformvorschlag eines Ersatzes einer Mehrversicherung neben der Auslagenpauschale nicht auf den Ersatz von Zustellungskosten erstreckt wurde, kann geschlossen werden, dass eine besondere Behandlung der Zustellungskosten neben bzw. zusätzlich zu einer Auslagenpauschale auch durch den Reformvorschlag und deren Autoren nicht intendiert worden war.                 

               

 

Elektronischer Rechtsverkehr

InsbürO 2022, 214: Anwendung der Regelungen des ERV im Insolvenzverfahren

AG Hamburg, Beschl. v. 21.02.2022 – 67h IN 29/22, ZInsO 2022, 595

Einer von drei Leitsätzen des Gerichts:

Die Vorschrift des § 130d ZPO ist auch im Insolvenzantragsverfahren anzuwenden. Ein „Dispens“ oder ein „Moratorium“ hinsichtlich der Nichtanwendung ist seitens der Insolvenzgerichte weder möglich noch statthaft.

Aus der Begründung:

Die Insolvenzanträge v. sind unwirksam. … Aus dem Bereich der Finanzämter sind Ersuchen an das Insolvenzgericht gerichtet worden, die Anwendung der v.g. Vorschrift "auszusetzen" oder ein "Moratorium", zumindest ca. bis Ende März, für die Anwendung vorzusehen, da tlw. die technischen Voraussetzungen zur Übermittlung von Schriftstücken in elektronischer Form noch nicht geschaffen bzw. die Anwendung noch tlw. nicht eingeübt bzw. die Anwendung noch tlw. nicht sicher ablaufend sei. Diesen Ersuchen ist nicht zu folgen. … Die Übermittlung eines Schriftsatzes entgegen § 130d Satz 1 ZPO entfaltet keine Wirkung, sofern nicht die Voraussetzungen einer zulässigen Ersatzeinreichung nach § 130d Satz 2 und Satz 3 ZPO vorliegen. … Strukturelle Mängel der IT-Infrastruktur des Nutzungspflichtigen oder gar Nutzungsunwille rechtfertigen den Rückgriff auf papierene Kommunikation nicht.

 

InsbürO 2022, 215: Wirksamkeit von durch Insolvenzverwalter als elektronisches Dokument eingereichter Antragsschrift

OLG Nürnberg, Beschl. v. 31.01.2022 – 3 W 149/22, WKRS 2022, 11825

Leitsatz des Gerichts:

Ein bei Gericht eingereichter Antrag kann nicht deshalb mangels Einhaltung der Vorgaben des § 130a Abs. 2 ZPO – wonach ein elektronisches Dokument für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet sein muss – zurückgewiesen werden, weil trotz der Verwendung eines zulässigen Formats (PDF) beim Kopieren von Textteilen in ein anderes elektronisches Dokument durch das Gericht eine unleserliche und sinnentstellte Buchstabenreihung entsteht.
 

Aus der Begründung:

Ob ein Dokument zur Bearbeitung bei Gericht geeignet ist, richtet sich gem. § 130a Abs. 2 S. 2 ZPO nach den Bestimmungen der Elektronischer-Rechtsverkehr-VO (ERVV) und den ergänzend hierzu erlassenen Bekanntmachungen (ERVB). Genügt das elektronische Dokument diesen Vorgaben, ist es für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet; ein im internen Gerichtsbetrieb auftretender Fehler führt dagegen nicht zur Unwirksamkeit der Einreichung (vgl. BGH, Urt. v. 14.05.2020 - X ZR 119/18, … Rn. 13 …).

               

 

Allgemeines

InsbürO 2022, 202 ff.: Keine datenschuldrechtliche Verantwortlichkeit des Insolvenzverwalters?

AG Hamburg, Urt. v. 15.11.2021 – 11 C 75/21, ZInsO 2022, 97

Leitsätze des Gerichts:

  1. Ein Insolvenzverwalter ist für die Daten des Schuldner(organs) nicht Datenverantwortlicher i.S.v. Art. 4 Nr. 7 DSGVO und nicht auskunftspflichtig nach Art. 15 DSGVO.
     
  2. Sofern Auskunftsansprüche geltend gemacht werden, wären konkrete Datenverarbeitungsvorgänge des Insolvenzverwalters (oder auf dessen Geheiß erfolgte) zu beschreiben; eine „Datenlagerung“ ist keine Datenverarbeitung.
     
  3. Sofern der Insolvenzverwalter dennoch Auskunft erteilt, ist es ausreichend, wenn er über die über den Schuldner (bzw. dessen Organ) gespeicherten Daten nach Datenkategorien, über die übernommenen Datenkategorien, die Datenverarbeitungszwecke und die Speicherdauer, sowie der Übermittlung von Daten an Dritte und in Drittstaaten, Auskunft erteilt. Eine substanziiertere Auskunft ist nicht geschuldet.

(umfassende Anmerkung von Christian Weiß und Dr. Robert Kazemi dazu in InsbürO 2022, 203 f.)