18.12.2020

Aus der Rechtsprechung

Rechtsprechungsüberblick

 

Nachfolgende Texte wurden in ähnlicher Form in der InsbürO - einer Zeitschrift für die Insolvenzpraxis - veröffentlicht. Die Zeitschrift erscheint im Carl Heymanns Verlag, Wolters Kluwer Deutschland GmbH. Unsere Mitarbeiterin Michaela Heyn ist Schriftleiterin und Mitherausgeberin dieser Zeitschrift.

 

Dezember 2020

 

Insolvenzverfahren natürlicher Personen

InsbürO 2020, 491 f.: Zuständigkeit des Vollstreckungsgerichts für Erinnerungen in der Restschuldbefreiungsphase

AG Remscheid, Beschl. v. 17.12.2019 – 13 M 2520/19, ZInsO 2020, 2225 (rkr.)

Leitsatz RA Kai Henning, Dortmund:

Über die Zulässigkeit von Vollstreckungsmaßnahmen in der Restschuldbefreiungszeit nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens entscheidet das Vollstreckungsgericht und nicht das Insolvenzgericht.

 

Anmerkung RA Kai Henning, Dortmund:

Dieser Entscheidung liegt ein in der Praxis nicht selten vorkommender Sachverhalt zugrunde. Trotz Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wird gegen den Schuldner vollstreckt, im vorliegenden Fall nach Aufhebung des eigentlichen Insolvenzverfahrens in der Restschuldbefreiungszeit. Im Fall einer solchen Vollstreckung stellen sich wichtige Fragen ihrer Zulässigkeit und des für Rechtsmittel zuständigen Gerichts, die das Amtsgericht hier zutreffend beantwortet.

Das Vollstreckungsverbot der §§ 89 Abs. 1 und 294 Abs. 1 InsO gilt zunächst einschränkungslos für alle Insolvenzgläubiger. Es gilt daher auch für Insolvenzgläubiger, die am Insolvenzverfahren nicht teilgenommen haben und die der Schuldner in seinem Vermögensverzeichnis nicht angegeben hat. Ebenso gilt es für Unterhalts- und Deliktsinsolvenzgläubiger, die mit ihren Insolvenzforderungen nicht in den Vorrechtsbereich des § 850d oder § 850f Abs. 2 ZPO vollstrecken dürfen. Nur die Unterhalts- und Deliktsneugläubiger dürfen vollstrecken. Auch die Zwangsvollstreckung in Gegenstände, die bereits im Insolvenzverfahren aus der Insolvenzmasse freigegeben wurden, ist den Insolvenzgläubigern untersagt (BGH, Beschl. 12.02.2009 - IX ZB 112/06, InsbürO 2009, 198 = ZInsO 2009, 830). Neugläubiger, deren Forderungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, unterliegen dem Vollstreckungsverbot dagegen nicht. Das Vollstreckungsverbot des § 294 Abs. 1 InsO gilt unmittelbar ab Aufhebung oder Einstellung des Insolvenzerfahrens, so dass zwischen eröffnetem Verfahren und Wohlverhaltensphase weder eine Verstrickung noch ein Pfändungspfandrecht entstehen können.

Gegen eine unzulässige Zwangsvollstreckung kann sich der Schuldner in der Restschuldbefreiungszeit mit der Vollstreckungserinnerung nach § 766 ZPO zur Wehr zu setzen. Zuständig ist das Vollstreckungsgericht, nicht das Insolvenzgericht, das gem. § 89 Abs. 34 InsO nur im eröffneten Insolvenzverfahren anzurufen ist.

 

 

InsbürO 2020, 496: (Kein) Klärungsbedarf hinsichtlich Zulässigkeit von weiterem Antrag auf Restschuldbefreiung in nämlichem Insolvenzverfahren

BGH, Beschl. v. 01.10.2020 – IX ZA 3/20, WKRS 2020, 38690

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)

Aus dem Sachverhalt:

Auf Eigenantrag und Antrag des Finanzamtes wurde am 05.12.2003 das Insolvenzverfahren eröffnet. Die Schuldnerin stellte am 16.02.2004 einen Antrag auf Restschuldbefreiung, den das Insolvenzgericht als unzulässig abwies, weil er nicht fristgerecht gestellt worden sei. Es wurde kein Rechtsmittel eingelegt. Am 14.09.2006 stellte die Schuldnerin einen neuen Antrag. Dieser wurde im Schlusstermin am 22.08.2019 zurückgewiesen. Die Schuldnerin beabsichtigt, die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde einzulegen.

 

Aus der Begründung:

Rn. 7: Es stellen sich keine Rechtsfragen von grds. Bedeutung. … Rn. 10: … Zwar fehlt es an einer höchstrichterlichen Entscheidung, die sich ausdrücklich zur Zulässigkeit eines weiteren Restschuldbefreiungsantrags im nämlichen Insolvenzverfahren nach rechtskräftiger Verwerfung des ersten Antrags verhält. Entschieden hat der Bundesgerichtshof allerdings, dass ein weiterer Antrag im nämlichen Insolvenzverfahren unzulässig ist, nachdem der erste Restschuldbefreiungsantrag zurückgenommen wurde (vgl. BGH, Beschl. v. 01.07.2010 - IX ZA 20/10, … Rn. 4). … Rn. 12: Ein weiterer Restschuldbefreiungsantrag im nämlichen Insolvenzverfahren wird auch nicht dadurch zulässig, dass der erste Antrag zu Unrecht als unzulässig verworfen wird. … Rn. 13: Grundsätzliche Bedeutung hat die Rechtssache auch nicht deshalb, weil sowohl über den ersten als auch über den zweiten Restschuldbefreiungsantrag der Schuldnerin die Rechtspflegerin des Insolvenzgerichts entschieden hat. Ihre funktionelle Zuständigkeit folgt aus § 3 Nr. 2 Buchst. e RPflG. Die (vorzeitige) Verwerfung eines Restschuldbefreiungsantrags als unzulässig in einem - wie hier - vor dem 01.07.2014 beantragten Insolvenzverfahren (Art. 103h Satz 1 EGInsO) ist nicht dem Richter des Insolvenzgerichts vorbehalten.

 

 

Unternehmensinsolvenzen

InsbürO 2020, 496 f.: Frage der Zulässigkeit der Direktzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen durch den Entleiher

OLG Koblenz, Urt. v. 09.06.2020 – 3 U 762/19, ZInsO 2020, 1539

Leitsätze des Gerichts:

1. Eine Vereinbarung in einem Arbeitnehmerüberlassungsrahmenvertrag, nach der sich der Entleiher verpflichtet, den auf die Sozialversicherungsbeiträge entfallenden Vergütungsanteil unmittelbar an den Sozialversicherungsträger zu zahlen, stellt auch unter Berücksichtigung der vom BGH in seinen Urteilen vom 02.12.2004 (IX ZR 200/03) und vom 14.07.2005 (IX ZR 142/02) aufgestellten Grundsätze eine wirksame Erfüllungsübernahme i.S.v. § 329 BGB dar. Sie trägt dem legitimen Interesse des Entleihers Rechnung, sich vor einer doppelten Inanspruchnahme zu schützen, ohne die Erreichung des Zwecks des § 28e Abs. 3 SGB IV, nämlich die Sicherstellung der Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge und den arbeits- sowie sozialversicherungsrechtlichen Schutz des Leiharbeitnehmers, zu gefährden.

2. Die Bestellung eines "starken" vorläufigen Insolvenzverwalters ändert an der Direktzahlungsbefugnis der Entleiherin nichts, da dieser in bestehende Verträge der Insolvenzschuldnerin eintritt und deren Durchführung fortsetzt, soweit er diese nicht im Rahmen der allgemeinen Vorschriften beendet.

3. Die Erfüllungsübernahme führt zu einem Anspruch auf Befreiung der Verleiherin von den Sozialversicherungsansprüchen des Sozialversicherungsträgers bzgl. der an die Beklagte im Verleihzeitraum überlassenen Arbeitnehmer.

4. Direktzahlungen der Entleiherin an die Sozialversicherungsträger sind nicht auf die ältesten offenen Sozialversicherungsbeiträge der Verleiherin, sondern auf diejenigen Sozialversicherungsbeiträge zu verrechnen, die die an die Entleiherin überlassenen Arbeitnehmer und die zwischen ihr und der Verleiherin vereinbarten Überlassungszeiträume betreffen.

5. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens wandeltsich der sich aus der Erfüllungsübernahme ergebende Befreiungsanspruch jedenfalls dann in einen Zahlungsanspruch zur Insolvenzmasse um, wenn sich der Insolvenzverwalter nicht zur Fortsetzung der Arbeitnehmerüberlassungen auf Basis des Rahmenvertrags entscheidet. Zahlt der Entleiher nach Kenntnis von der Insolvenzeröffnung trotz Beendigung des Vertragsverhältnisses weiterhin unmittelbar an den Sozialversicherungsträger, befreit ihn dies nicht von seiner Zahlungspflicht gegenüber der Insolvenzmasse.

 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Revision wurde gem. § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO wegen grds. Bedeutung zugelassen. Die grds. Bedeutung ergäbe sich aus den hier entscheidungserheblichen Fragestellungen, ob das Risiko doppelter Inanspruchnahme des Entleihers dadurch vermieden werden könne, dass diesem vertraglich das Recht eingeräumt werde, mit schuldbefreiender Wirkung gegenüber dem Verleiher unmittelbar an den Sozialversicherungsträger zu leisten sowie - falls ja -, ob dies auch für Zahlungen nach Insolvenzeröffnung bzw. nach Kenntnis von der Insolvenzeröffnung gelte. Diese Fragen könnten sich über den Einzelfall hinaus in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen im Bereich der wirksamen Arbeitnehmerüberlassung stellen. Sie seien in der Literatur umstritten und höchstrichterlich bislang nicht geklärt. Die Revision wurde auch eingelegt. Das Verfahren ist zum Zeitpunkt der Druckfreigabe unter dem AZ: IX ZR 121/20 anhängig. Zu dieser Thematik sei auch auf zwei Aufsätze in der InsbürO verwiesen: Arend/Tenbergen, Insolvenzrechtliche Behandlung der Entgeltforderungen von ins Ausland überlassener Mitarbeiter gewerbsmäßiger Arbeitnehmerüberlasser – 1. Teil: Sozialversicherungs- und steuerrechtliche Grundlagen (InsbürO 2019, 484 ff.) und 2. Teil: Sozialversicherungs- und steuerrechtliche Besonderheiten bei grenzüberschreitender Überlassung (InsbürO 2020, 62 ff.).

          

 

InsbürO 2020, 497: Zum Anspruch gegen D&O-Versicherer      

OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.06.2020 – 4 U 134/18, ZInsO 2020, 1713 (rkr.)

Aus der Begründung:

Gem. § 110 VVG kann der geschädigte Dritte wegen des ihm gegen den Versicherungsnehmer zustehenden Anspruchs abgesonderte Befriedigung aus dem Freistellungsanspruch des Versicherungsnehmers gegen seinen Versicherer verlangen, wenn über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet ist. … Voraussetzung des Anspruchs auf abgesonderte Befriedigung ist nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 110 VVG aber, dass der Versicherungsnehmer in Anspruch genommen und über sein Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Hier geht es jedoch um Ansprüche gegen die versicherte Person, die – ebenfalls – insolvent ist. Ob bei der Versicherung für fremde Rechnung i.S.d. §§ 43 ff. VVG – um eine solche handelt es sich bei der zwischen der Insolvenzschuldnerin und der Beklagten geschlossenen Vermögensschadenhaftpflicht - bzw. D&O-Versicherung (…) – nicht die Insolvenz des Versicherungsnehmers, sondern die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der versicherten Person entscheidend für die Anwendbarkeit des § 110 VVG ist (…), ist bislang, soweit ersichtlich, nicht entschieden. … Einer abschließenden Entscheidung des Senats hierzu bedarf es jedoch nicht. … Doch ist es der Beklagten (= Versicherung) auch hier nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, sich auf eine fehlende Prozessführungsbefugnis des Klägers (= Insolvenzverwalter) zu berufen. … Bei dem gesetzlichen Haftpflichtanspruch gem. § 64 GmbHG handelt es sich nicht um einen solchen, aufgrund dessen die versicherte Person für einen Vermögensschaden haftpflichtig ist, und der deshalb unter einen derartigen D&O-Versicherungsschutz für Schadenersatz fällt (…). Eine Auslegung der Versicherungsbedingungen dahin gehend, dass der dort genannte Schadenersatzanspruch auch den Ersatzanspruch nach § 64 GmbHG erfasst, kommt nicht in Betracht (…).

 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Das OLG Düsseldorf hat die Revision nicht zugelassen. Es bezieht sich in seiner Begründung mehrfach auf eine eigene Entscheidung vom 20.07.2018 (4 U 93/16, InsbürO 2018, 449 = ZInsO 2018, 1809, 1809). Gegen diese wurde damals Nichtzulassungsbeschwerde erhoben (BGH: ZR 186/18), später aber zurückgenommen, so dass der BGH nicht entschieden hat. Die sich damals 2018 ergebenden neuen Fragen der Geschäftsführerhaftung (§ 64 GmbHG), wenn die Haftung aus § 64 GmbHG nicht zwingend unter den Schutz einer zugunsten des Geschäftsführers bestehenden D&O-Versicherung fällt, hatte Poertzgen in InsbürO 2019, 289 ff. vorgestellt.

            

 

InsbürO 2020, 497: Frage der Haftung der Kommanditisten für Masseverbindlichkeiten

OLG Karlsruhe, Urt. v. 24.07.2020 – 1 U 75/19, ZInsO 2020, 1999

Aus der Begründung:

Der Umfang, in dem die ausschließlich gegenüber Gesellschaftsgläubigern bestehende Haftung des Kommanditisten nach § 172 Abs. 4 HGB wieder auflebt, ist in dreifacher Hinsicht, nämlich durch die Haftsumme, die Höhe des ausgezahlten Betrags und durch das Ausmaß der dadurch ggf. entstehenden Haftsummenunterdeckung begrenzt (BGH, ...). … Diese gesetzliche Umschreibung der Anspruchsvoraussetzungen und der mit der Regelung verfolgte Zweck, die Haftungsmasse in der KG wieder herzustellen (BGH, …), schließt es aus, dass die Kommanditisten aus § 172 Abs. 4 HGB für vom Verwalter begründete Masseschulden (§§ 53 ff. InsO) in Anspruch genommen werden, für diese haften sie vielmehr nicht, weil es sich insoweit nicht um Forderungen von Gläubigern der Gesellschaft handelt (BGH …). … Deshalb genügt der Insolvenzverwalter seiner Darlegungslast noch nicht, wenn er allgemein eine Unterdeckung der Insolvenzmasse vorträgt; er muss vielmehr dartun, dass die Auszahlungen zur Befriedigung der durch §§ 172 Abs. 4, 171 Abs. 1 HGB allein geschützten Gläubigergruppe benötigt werden und folglich den Umfang der insoweit bestehenden Unterdeckung darlegen (…).

 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Revision wurde wegen der entscheidungserheblichen und klärungsbedürftigen Rechtsfrage, ob Kommanditisten vom Insolvenzverwalter gem. §§ 171 Abs. 1, 172 Abs. 4 HGB auch wegen Masseverbindlichkeiten und -kosten (§§ 54, 55 InsO) in Anspruch genommen werden können, zugelassen. Die Revision wurde auch eingelegt und ist zum Zeitpunkt der Druckfreigabe beim BGH unter dem AZ: IX ZR 154/20 anhängig.

         

 

InsbürO 2020, 497 f.: (Kein) Deckungsschutz aus Betriebsschließungs-versicherung für coronabedingte Ertragsausfälle

OLG Hamm, Beschl. v. 15.07.2020 – 20 W 21/20 (rkr.)

Amtlicher Leitsatz:

Verspricht eine Betriebsschließungsversicherung Deckungsschutz für „nur die im Folgenden aufgeführten (vgl. §§ 6 und 7 IfSG)“ Krankheiten und Krankheitserreger, wobei Covid-19 und Sars-Cov-2 (auch sinngemäß) nicht genannt sind, besteht kein Versicherungsschutz bei Betriebsschließungen wegen des neuartigen Corona-Virus. Der Klammerzusatz („vgl. §§ 6 und 7 IfSG“) führt bei diesem Wortlaut nicht etwa zu einer Auslegung dahin, dass „dynamisch“ (auch) auf spätere Änderungen des Infektionsschutzgesetzes verwiesen werde.

 

Hinweis des Gerichts: Im Streitfall war der Versicherungsvertrag geschlossen vor dem 23.05.2020 (Inkrafttreten einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes) und auch vor der Verordnung über die Ausdehnung der Meldepflicht vom 30.01.2020.

 

Aus der Begründung:

Die Aufzählung der „versicherten“ Krankheiten und Krankheitserreger in Teil B Nr. 8.2.2 der vereinbarten Bedingungen (…) ist abschließend. Der Wortlaut „nur die im Folgenden aufgeführten (…)“ und die anschließende ausführliche Auflistung einer Vielzahl von Krankheiten und Erregern macht dem – für die Auslegung maßgeblichen – durchschnittlichen Versicherungsnehmer deutlich, dass der Versicherer nur für die benannten, vom Versicherer einschätzbaren Risiken einstehen will.

 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Im letzten Heft hatten wir die Entscheidung des LG Mannheim (Urt. v. 29.04.2020 - 11 O 66/20, WKRS 2020, 18054) veröffentlicht (InsbürO 2020, 455), die anders ausfiel und eine dynamische Bezugnahme sah.

 

 

Steuerrecht

InsbürO 2020, 498: Verfassungswidrigkeit von Säumniszuschlägen einzelfallabhängig

FG Münster, Beschl. v. 29.05.2020 – 12 V 901/20 AO, ZInsO 2020, 2114 (rkr.)

Aus der Begründung:

Der Senat hat keine Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des § 240 AO (…). Nach Auffassung des Senats hat sich dies auch nicht deswegen geändert, weil inzwischen gegen die Höhe des Zinssatzes schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken bestehen (…). … Der den Säumniszuschlägen innewohnende Zinseffekt stellt lediglich einen Nebeneffekt dar und aktualisiert sich erst in den Fällen, in denen der Normzweck des Druckmittels nicht eingreift und der Zweck der Verzinsung in den Vordergrund tritt (wie im Fall der Überschuldung bzw. Zahlungsunfähigkeit, …). Erst in den Situationen, in denen der Säumniszuschlag nicht mehr als Druckmittel fungiert, entsteht die Situation, dass lediglich der Verzinsungszweck das Erheben von Säumniszuschlägen rechtfertigt. Dies offenbart sich indes erst im Einzelfall und kann keine Verfassungswidrigkeit der Vorschrift des § 240 AO im Allgemeinen begründen (…).

 

 

Vertragsverhältnisse

InsbürO 2020, 498: Tlw. Räumung durch Insolvenzverwalter führt zu keiner Masseverbindlichkeit des weiteren Räumungsanspruches

BGH, Urt. v. 17.09.2020 – IX ZR 62/19, ZInsO 2020, 2266

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)

Leitsätze des Gerichts:

1. Stellt die Räumungspflicht des Mieters nur eine Insolvenzforderung dar, begründet eine tlw. Räumung durch den Insolvenzverwalter keine Masseverbindlichkeit.

2. Entfernt der Insolvenzverwalter eine Einrichtung, die der Schuldner mit der Mietsache verbunden hat und die im Eigentum des Schuldners steht, stellt die Pflicht zur Instandsetzung der Sache in den vorigen Stand keine Masseverbindlichkeit dar, wenn der Insolvenzverwalter dabei den Rahmen einer tlw. Erfüllung der Räumungspflicht nicht überschreitet.

 

Aus dem Sachverhalt:

Der Insolvenzverwalter entfernte u.a. eine Leichtbauhalle, beließ aber die für die Halle von der Schuldnerin eingebauten Fundamente auf dem Grundstück. Der Vermieter verlangt, die Fundamente abzubrechen und das Abbruchmaterial zu entfernen bzw. wegen dieser fehlenden Tätigkeit die Zahlung einer Nutzungsentschädigung.

 

Aus der Begründung:

Damit können nur solche Leistungsansprüche des Vermieters Masseverbindlichkeit sein, die der Insolvenzverwalter durch eigene oder ihm selbst zuzurechnende Handlungen verursacht hat (BGH …). … Eine nur tlw. Entfernung einer Einrichtung lässt die Räumungspflicht hinsichtlich der restlichen Einrichtung nicht zu einer Masseverbindlichkeit werden. … Dies kommt erst in Betracht, wenn der Insolvenzverwalter mit der Entfernung einer Einrichtung nicht nur den Räumungsanspruch (tlw.) erfüllt, sondern weitergehende Rechte zugunsten der Masse beansprucht und dabei in Rechte des Vermieters eingreift. Daran fehlt es jedenfalls dann, wenn der Insolvenzverwalter nur eine Einrichtung entfernt, die im Eigentum des Schuldners steht, und die Mietsache abgesehen von der Trennung der Einrichtung nicht weiter verändert wird.

                     

 

Vollstreckungsrecht

InsbürO 2020, 498: Sonderkonto ist von Alt-Pfändung nicht umfasst

AG Hannover, Beschl. v. 24.07.2020 – 904 IK 1132/19 – 6, ZInsO 2020, 2155 (rkr.)

Zum Sachverhalt:

2016 wurde ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluss für alle Konten des Schuldners bei der D-Bank ausgebracht. 2019 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet. Der Insolvenzverwalter eröffnet bei derselben D-Bank ein Sonderkonto. Die Bank vertrat die Auffassung, dass der Pfüb auch das Sonderkonto erfasste.

 

Aus der Begründung:

Die Vollstreckungserinnerung ist zulässig. … Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist vorliegend das Guthaben auf dem Sonderkonto nicht erfasst. Nach dem Wortlaut des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses sollen alle Ansprüche des Schuldners auf Zahlung der zu seinen Gunsten bestehenden Guthaben seiner sämtlichen Girokonten bei der D … AG erfasst sein. Aus dieser Formulierung kann nicht geschlossen werden, dass auch das nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den Insolvenzverwalter eröffnete Sonderkonto erfasst wird. Zunächst kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem Sonderkonto überhaupt um ein Konto des Schuldners selbst handelt, da zwei weitere Punkte gegen die Einbeziehung in den Wirkungskreis des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses sprechen. Aus dem Pfändungs- und Überweisungsbeschluss wird nicht ersichtlich, dass auch sämtliche Ansprüche aus Kontenbeziehungen, die der Schuldner erst zukünftig begründet, von diesem erfasst sein sollen. … Eindeutig sollen nach dem Wortlaut allerdings nur Girokonten des Schuldners erfasst sein. Unter einem Girokonto versteht man ein Konto, das zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs eingerichtet wird. … Das Sonderkonto kann nicht unter den Begriff des Girokontos subsumiert werden, weil es sich in seiner rechtlichen Konstruktion erheblich von einem Girokonto unterscheidet. Ebenso wie bei der konkreten Verwendung des Begriffs "Girokonto" etwaige Sparkonten von der Pfändung nicht erfasst wäre, gilt Gleiches für das Sonderkonto.

 

 

InsbürO 2020, 499: Einstweiliger Vollstreckungsschutz für Corona-Soforthilfe nur nach hinreichender Darlegung der Existenzgefährdung

FG Münster, Beschl. v. 29.06.2020 – 8 V 1791/20 AO, ZInsO 2020, 2218

Zum Sachverhalt:

Der Antragsteller ist mit einem Einzelunternehmen als freiberuflicher Architekt tätig. Er unterhält ein P-Konto. Er erhielt aus dem Programm "Soforthilfen für Kleinstunternehmer und Soloselbständige" eine Soforthilfe i.H.v. 9.000 € als einmalige Pauschale. Der Antragsgegner erließ vier Pfändungs- und Einziehungsverfügungen. Die Bank erklärte dem Antragsteller, dass eine Freigabe der 9.000 € nur mit einem Freigabebeschluss des Vollstreckungsgerichts möglich sei.

 

Aus der Begründung:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet. … Der Antragsteller hat nicht hinreichend dargelegt, dass die Pfändung der Corona-Soforthilfe … existenzgefährdende Folgen für ihn hat. Der Antragsteller hat insbesondere nicht substanziiert dargelegt, für welche aufgelaufenen oder anstehenden Betriebsausgaben aus dem Bewilligungszeitraum er die Corona-Soforthilfe benötigt. … Ferner hat der Antragsteller nicht dargelegt, inwiefern sein Umsatz durch die Corona-Pandemie eingebrochen ist.

 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Der Frage, ob Corona Soforthilfen pfändbar sind oder nicht, ist zuletzt Lissner in Insbüro 2020, 432 ff. (Heft 11/2020) nachgegangen und kam zu dem Ergebnis, dass dies mangels gesetzlicher Regelungen weiterhin unklar sei. Das Finanzgericht hatte die Beschwerde zwar wg. grds. Bedeutung zugelassen. Sie wurde aber nur im Rahmen eines PKH-Verfahrens beim BFH eingelegt (AZ: VII S 26/20) und diese durch Beschluss vom 23.09.2020 abgelehnt.

 

 

InsbürO 2020, 499: (Un-)Pfändbarkeit von auf P-Konto eingehender zweckgebundener Corona-Soforthilfe

AG Passau, Beschl. v. 07.05.2020 – 4 M 1551/20, ZInsO 2020, 2273 (rkr.)

Aus der Begründung:

Vorliegend wurde dem Schuldner "Corona-Soforthilfe" i.H.v. 5.000 € durch die Regierung … ausbezahlt. Eine Unpfändbarkeit dieser expliziten Gelder wurde durch den Gesetzgeber bis dato nicht geschaffen. Gem. § 851 Abs. 1 ZPO ist allerdings eine Forderung in Ermangelung besonderer Vorschriften der Pfändung nur insoweit unterworfen, als sie übertragbar ist. … Als i.S.d. § 851 ZPO zweckgebunden und damit weder abtretbar noch pfändbar sind folglich die "Corona-Soforthilfen" des Bundes und der Länder einzustufen. … Problematisch ist hierbei allerdings, dass die Corona-Soforthilfe bereits auf das P-Konto überwiesen worden ist und die Verweisungsvorschrift des § 850k Abs. 4 Satz 2 ZPO nicht auf den § 851 ZPO verweist. Allerdings ist in diesem Zusammenhang nach Ansicht des Vollstreckungsgerichts die Vorschrift des § 850k Abs. 4 Satz 2 ZPO um die des § 851 ZPO teleologisch zu erweitern (teleologische Extension).

                  

 

InsbürO 2020, 499: (Keine) Coronabedingte Aufhebung von bereits vor dem 19.03.2020 erfolgter Vollstreckung

BFH, Beschl. v. 30.07.2020 – VII B 73/20 (Adv), ZInsO 2020, 2200

Leitsätze des Gerichts:

1. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Finanzbehörden das BMF-Schreiben betreffend „Steuerliche Maßnahmen zur Berücksichtigung des Coronavirus COVID-19/SARS-CoV-2“ vom 19.03.2020 nicht auf Vollstreckungsmaßnahmen anwenden, die bereits vor Bekanntgabe dieses Schreibens durchgeführt worden sind.

2. Steuerschuldner, gegen die bereits vor Bekanntgabe dieses Schreibens vollstreckt worden ist, können um Rechtsschutz nach den allgemeinen Regeln (z.B. § 258 AO) ersuchen.

 

 

InsbürO 2020, 499 f.: Anspruch auf Beendigung der steuerlichen Zwangsvollstreckung bei COVID-19-bedingten Mietausfällen

FG Düsseldorf, Beschl. v. 29.05.2020 – 9 V 754/20 AE(KV), ZInsO 2020, 2044 (rkr.)

Aus der Begründung:

Die … veranlagten Antragsteller erzielen seit Jahren im Wesentlichen Vermietungseinkünfte … Zur weiteren Glaubhaftmachung legten die Antragsteller eine eidesstattliche Versicherung vor, in der sie einen Teil der bereits im außergerichtlichen Verfahren vorgetragenen Mietausfälle versichern. … Die Antragsteller haben einen auf vorläufige Aufhebung der Kontopfändungen gem. § 258 AO gerichteten Anspruch. Wegen der Selbstbindung der Verwaltung, ausgedrückt durch das BMF-Schreiben v. 19.03.2020, ist über Art. 3 Abs. 1 GG das Ermessen des FA auf das Absehen von Vollstreckungsmaßnahmen bis zum 31.12.2020 reduziert und schließt die Aufhebung bereits erfolgter und ohne Weiteres aufhebbarer Vollstreckungsmaßnahmen ein. Durch Darlegung der Voraussetzung dieses Anspruchs ist auch die Notwendigkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) bezeichnet. Die Glaubhaftmachung ist erfolgt. … Ein "Absehen" von der Zwangsvollstreckung i.S.d. BMF-Schreibens gebietet daher auch die Beendigung noch laufender Zwangsvollstreckungsmaßnahmen.

 

 

Insolvenzverwalterhaftung

InsbürO 2020, 494 f.: Rückforderungsanspruch gegen Insolvenzverwalterin persönlich wegen Änderung von Einkommensteuerbescheiden aufgrund Restschuldbefreiung und geführtem Anderkonto

FG Düsseldorf, Beschl. v. 04.05.2020 – 12 V 3362/19 A(AO), ZInsO 2020, 2148

Leitsatz Insolvenzsachbearbeitern Michaela Heyn, Ahlen:

Nach der Rechtsprechung des BGH eignen sich Anderkonten nicht zur Anlage von Geldmitteln der Insolvenzmasse. Durch pflichtgemäßes Handeln, nämlich durch Einrichtung von Sonderkonten, hätte eine persönliche Rückzahlungsverpflichtung der Insolvenzverwalterin vermieden werden können.

 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Entscheidung birgt Haftungspotential für die Insolvenzverwalter. Man muss sich hier vor Augen führen: Im April 2019 vollzieht die Insolvenzverwalterin die Schlussverteilung im Juni 2019 wird das Verfahren aufgehoben. Die BGH-Entscheidung, die ein Anderkonto für die Führung als Insolvenzkonto für unzulässig erklärt (IX ZR 47/18), datiert vom 07.02.2019. Diese Entscheidung hatte erhebliche Diskussionen ausgelöst und vor allem auch die Banken vor vertragliche Probleme gestellt. Zwar forderten manche Insolvenzgerichte direkt nach Bekanntwerden dieser BGH-Entscheidung ihre Insolvenzverwalter auf, sämtliche Konten umzustellen. Es durften keine Ander- bzw. Treuhandkonten mehr sein, sondern sollten Sonder- bzw. Ermächtigungskonten geführt werden. Aber viele Banken waren anfangs gar nicht in der Lage, Verträge zu solchen Konten anzubieten. Es dauerte mehrere Monate, bis alle Banken entsprechende vertragliche Regelungen ausgearbeitet hatten. Das Gericht führt in der obigen Entscheidung aus, dass diese Problematik der Anderkontenführung lange bekannt war. Das ist richtig. Es gab schon vorher entsprechende Entscheidungen dazu (u.a. BGH v. 20.08.2007 - IX ZR 91/06, ZInsO 2007, 1228; s. hierzu auch: Beiske/Heyn, Die ungerechtfertigte Bereicherung der Insolvenzmasse, InsbürO 2017, 193 ff.). Aber so richtig reagiert hat die Praxis erst 2019, was als Begründung für eine andere Zuordnung der Gelder zur Insolvenzmasse und nicht zum persönlichen Bereich wenig aussichtsreich erscheint. Die Insolvenzverwalterin argumentiert aber zur Abwehr der gegen sie persönlich gerichteten Rückforderungsansprüche, dass die Vereinnahmung zugunsten der Masse spätestens mit der Schlussverteilung vollzogen sei, weil die Gelder auf dem für sie persönlich geführten Konto damit zugunsten der Insolvenzmasse geflossen sind. Es bleibt abzuwarten, wie der BFH diese Frage entscheidet. Es wurde nämlich die Rechtsbeschwerde wegen uneinheitlicher Rechtsprechung der Finanzgerichte zugelassen und diese auch eingelegt. Das Verfahren ist zum Zeitpunkt der Druckfreigabe beim BFH unter dem AZ: VII B 64/20 (AdV) anhängig.

Im Übrigen geht das Finanzgericht von der Rechtmäßigkeit der geänderten Einkommensteuerbescheide aus. Zu der Frage, ob eine im Jahre 2011 erteilte Restschuldbefreiung auch dann in das Jahr der Betriebsaufgabe (2005) zurückwirkt, wenn diese erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt, ist beim BFH zum Zeitpunkt der Druckfreigabe ein Verfahren anhängig (X R 28/19). Die Frage der Rückwirkung der Restschuldbefreiung ist damit noch nicht abschließend geklärt und betrifft auch den vorliegenden Fall, denn die Insolvenzeröffnung erfolgte 2012, die Betriebsaufgabe fand 2013 statt und damit auch nach Insolvenzeröffnung.

 

 

Europäisches / internationales Recht

InsbürO 2020, 500: Forum Shopping: (Widerlegbare) Vermutung zum Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des nichtselbständig tätigen Schuldners

EuGH, Urt. v. 16.07.2020 – C-253/19, ZInsO 2020, 1784

Leitsatz des Gerichts:

Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 und 4 der Verordnung (EU) Nr. 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.05.2015 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Vermutung zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, wonach der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person, die keine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist, nicht schon allein dadurch widerlegt wird, dass die einzige Immobilie dieser Person außerhalb des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts belegen ist.

 

Zum Sachverhalt:

Der Mittelpunkt ihrer (= Ehegatten) hauptsächlichen Interessen sei … nicht ihr gewöhnlicher Aufenthalt im Vereinigten Königreich, sondern befinde sich vielmehr in Portugal, dem Mitgliedstaat, in dem die einzige Immobilie belegen sei, deren Eigentümer sie seien, und in dem alle Geschäfte getätigt und alle Verträge geschlossen worden seien, die zu ihrer Insolvenz geführt hätten. Im Übrigen bestehe keine Verbindung zwischen dem Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts und dem Sachverhalt, der zu ihrer Insolvenz geführt und der sich vollständig in Portugal abgespielt habe. MH und NI (= die Ehegatten) beantragen daher, die portugiesischen Gerichte als international zuständig anzuerkennen.

                        

Aus der Begründung:

Rn. 24: Wie der Generalanwalt … im Wesentlichen ausgeführt hat, sind somit für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person, die keine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, die Kriterien maßgeblich, die sich auf ihre Vermögenslage und wirtschaftliche Situation beziehen, d. h., es wird auf den Ort abgestellt, an dem diese Person der Verwaltung ihrer wirtschaftlichen Interessen nachgeht und an dem die meisten ihrer Einkünfte erzielt und ausgegeben werden, oder aber auf den Ort, an dem sich der Großteil ihres Vermögens befindet. … Rn. 30: Zwar ist die Ursache der Insolvenzlage als solche kein relevanter Gesichtspunkt für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person, …, das vorlegende Gericht hat jedoch sämtliche objektiven und von Dritten feststellbaren Faktoren zu berücksichtigen, die sich auf die Vermögenslage und wirtschaftliche Situation dieser Person beziehen. In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens ist diese Situation, wie in Rn. 24 … ausgeführt, mit dem Ort verknüpft, an dem die Kläger des Ausgangsverfahrens gewöhnlich der Verwaltung ihrer wirtschaftlichen Interessen nachgehen und an dem die meisten ihrer Einkünfte erzielt oder ausgegeben werden, oder mit dem Ort, an dem sich der Großteil ihres Vermögens befindet.

 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Entscheidung wurde von Prof. Dr. Jessica Schmidt in ZInsO 2020, 1816 analysiert. Sie weist darauf hin, dass der EuGH mit dieser Entscheidung die Bedeutung und Reichweite der Vermutung in Art. 3 Abs. 1 UAbs. 4 EuInsVO 2015 näher konturiert habe. Es würden sich fünf grundlegende und wichtige Aussagen zusammenfassen lassen. Eine davon lautet: „Die Umstände, die zum Eintritt der Insolvenz geführt haben, können aber im Rahmen der Gesamtwürdigung relevant werden.“

 

 

Allgemeines

InsbürO 2020, 492 ff.: Zur erforderlichen Prüfung der Zulassung der Rechtsbeschwerde in Insolvenzsachen

BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 04.09.2020 - 2 BvR 1206/19, ZInsO 2020, 2310

Leitsätze RA Kai Henning, Dortmund:

1. Die Abschaffung der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde in Insolvenzsachen im Jahr 2011 führt nicht dazu, dass die Prüfungs- und Begründungsanforderungen der Beschwerdegerichte hinsichtlich der - nunmehr zulassungsbedürftigen - Rechtsbeschwerde gegenüber anderen Beschwerdeverfahren nach der ZPO herabgesetzt worden sind.

2. Die Rechtsfragen, ob eine Berechtigung der Insolvenzgerichte zur Prüfung der Antragsunterlagen dahingehend besteht, ob die geeignete Person i.S.d. § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO n.F. den Schuldner persönlich beraten hat und welche Anforderungen an die persönliche Beratung des Schuldners nach § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO n.F. zu stellen sind und ob insbesondere eine telefonische Beratung zulässig ist, sind von grds. Bedeutung und ungeklärt.

 

Anmerkung RA Kai Henning, Dortmund:

Zum zweiten Mal bremst das BVerfG mit diesem Beschluss in einem Insolvenzverfahren einer natürlichen Person ein Landgericht, da es im Beschwerdeverfahren Rechte der Schuldnerinnen und Schuldner in einer nicht mehr zu vertretenen Art und Weise unbeachtet gelassen hat. Nachdem in der Entscheidung vom 07.12.2016 (2 BvR 1602/16, InsbürO 2017, 121 = ZInsO 2017, 158) das LG Schwerin gerügt wurde, sich mit einer rechtlich nicht mehr zu vertretenen Argumentation gegen die Rechtsprechung des BGH gestellt zu haben, wird jetzt dem LG Oldenburg vorgeworfen, die Rechtsmittelmöglichkeiten des Schuldners sachlich ungerechtfertigt beeinträchtigt zu haben.

Diese Vorwürfe wiegen schwer; die Entscheidungen des BVerfG verdeutlichen aber, dass sich auch Schuldner in einem Insolvenzverfahren gegen nicht mehr zu vertretende Entscheidungen der Insolvenz- und Instanzgerichte zur Wehr setzen können. Schuldnerinnen und Schuldner sollten aber beachten, dass nicht jede als unzutreffende oder falsch empfundene Entscheidung eines Beschwerdegerichts den Weg zum BVerfG eröffnet. „Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen gegenüber den Entscheidungen der Fachgerichte kommt nur in seltenen Ausnahmefällen unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot in Betracht“, führt das BVerfG in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2016 (a.a.O. Rn. 15) selbst aus. Eine Verfassungsbeschwerde muss zudem immer mit besonderer Gründlichkeit und Ausführlichkeit vorgetragen werden.

In der Sache ging es zum einen um die Frage, ob die Abschaffung der zulassungsfreien Beschwerde in Insolvenzverfahren im Jahr 2011 die Landgerichte von der Prüfung entbunden hat, ob die Rechtsbeschwerde zuzulassen ist. Das BVerfG verneint dies überzeugend. Die Landgerichte haben folglich stets zu prüfen, ob die Rechtsbeschwerde zuzulassen ist und ihre Entscheidung auch zu begründen. Sie können sich also nicht darauf berufen, dass es Ihnen freisteht, die Rechtsbeschwerde zuzulassen oder nicht. Die Feststellung des BVerfG wird die Position aller Beschwerdeführer stärken. Zum anderen hat das BVerfG mit der Entscheidung dafür gesorgt, dass die seit längerem ungeklärten und wichtigen grds. Fragen zur Überprüfbarkeit der außergerichtlichen Verhandlungen durch die Insolvenzgerichte und zur gebotenen Art der persönlichen Beratung nach § 305 InsO nun vom BGH entschieden werden können. Dafür muss die Schuldnerin allerdings den Rechtsmittelweg zum 9. Senat des BGH nun auch weiterverfolgen.