16.05.2023

Aus der Rechtsprechung

Rechtsprechungsüberblick

Nachfolgende Texte wurden in ähnlicher Form in der InsbürO - einer Zeitschrift für die Insolvenzpraxis - veröffentlicht. Die Zeitschrift erscheint im Carl Heymanns Verlag, Wolters Kluwer Deutschland GmbH. Unsere Mitarbeiterin Michaela Heyn ist Schriftleiterin und Mitherausgeberin dieser Zeitschrift.

Maiheft 2023

Einkommen

InsbürO 2023, 202 f.: Berücksichtigung von Unterhaltspflichten bei der Berechnung des pfändbaren Einkommensanteils

BGH, Beschl. v. 18.01.2023 - VII ZB 35/20, WKRS 2023, 11795

Leitsatz des Bearbeiters:

Gem. § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO werden Unterhaltspflichten des Schuldners bei der Bestimmung des unpfändbaren Einkommens nur in dem Umfang berücksichtigt, in dem der Schuldner tatsächlich Unterhalt leistet (Aufgabe von BGH, Beschl. v. 05.08.2010 - VII ZB 101/09).

Anmerkung RA Kai Henning, Dortmund:

Dieser Beschluss des 7. Zivilsenats des BGH gehört zu den Entscheidungen, die Schuldner- aber auch Gläubigerberater schon deshalb kennen sollten, weil der BGH hier seine bisherige Rechtsprechung aufgibt. Es ist nun bei der Bestimmung des dem Schuldner nach § 850d ZPO verbleibenden Einkommens nicht mehr auf den zu leistenden gesetzlichen Mindestunterhalt, sondern nur noch auf den tatsächlich vom Schuldner gezahlten Unterhalt abzustellen. Zahlt der Schuldner also weniger als den gesetzlichen Mindestunterhalt, reduziert sich auch sein unpfändbares Einkommen. Der BGH löst sich damit etwas vom Gesetzeswortlaut und stellt jetzt darauf ab, dass der Schuldner jederzeit mit einem Antrag nach § 850g ZPO die Erhöhung des Unpfändbaren beantragen kann, wenn er mehr Unterhalt zahlen möchte.

Die Insolvenzmasse ist regelmäßig durch eine Pfändung nach § 850d ZPO nicht betroffen, da diese im Insolvenzverfahren nur den Bereich des Einkommens unterhalb der Pfändungsgrenze des § 850c ZPO betrifft. Nach Insolvenzeröffnung können zudem gem. § 89 Abs. 2 InsO nur Delikts- oder Unterhaltsneugläubiger in diesen Vorrechtsbereich vollstrecken. Der Arbeitgeber des Schuldners hat als Drittschuldner an den Insolvenzverwalter/Treuhänder die nach § 850c ZPO pfändbaren Einkommensanteile und an den Unterhalts- oder Deliktsneugläubiger den verbleibenden Betrag des Vorrechtsbereichs zu überweisen. Wegen dieser in der InsO angelegten Privilegierung der Unterhalts- und Deliktsneugläubiger hinsichtlich des Einkommensvorrechtsbereichs ist im Übrigen kein Raum für eine sozialrechtliche Aufrechnung in diesem Bereich, was bekanntlich die Sozialgerichte anders beurteilen.

 

Insolvenzplanverfahren

InsbürO 2023, 205 f.: Freigabe Insolvenzplan wg. Erhalt Betriebsfortführung gegen Gläubigerbeschwerde

LG Potsdam, Beschl. v. 27.01.2023 – 14 T 5/23, ZInsO 2023, 528 (rkr.)

Sachverhalt und Entscheidungsgründe in Auszügen:

Mit Beschluss des … wurde … das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin, ein Unternehmen, das Erdgas an Endkunden vertreibt, in Eigenverwaltung angeordnet … Gegen diesen, den Insolvenzplan bestätigenden, Beschluss hat der Beschwerdeführer … sofortige Beschwerde eingelegt. … Mit Schriftsatz … beantragt die Schuldnerin eine Entscheidung gem. § 253 Abs. 4 InsO[1]. Sie trägt zur Begründung vor, dass die Fortführung des Geschäftsbetriebs von der rechtskräftigen Bestätigung des Insolvenzplans abhängig sei. Nach den aktuellen Planungen werde bei einer weiteren Verzögerung der Planumsetzung bereits in der 6. KW des Jahres 2023 der für den Fortbestand des Geschäftsbetriebs notwendige Bestand an liquiden Mitteln bei der Schuldnerin aufgebraucht sein. … Bei einem solchen Fall werde auch der Investor vom derzeit bestehenden Investorenvertrag zurücktreten, der seinerseits Grundlage für den Insolvenzplan und damit für die erzielbare Quote sei. … Der Freigabeantrag nach § 253 Abs. 4 InsO ist … begründet. … Da es sich bei dem Freigabeverfahren nach § 253 Abs. 4 InsO um ein Eilverfahren handelt (…) ist bei der Prüfung des Antrags nach § 253 Abs. 4 InsO im Wege einer summarischen Prüfung eine Abwägung der wechselseitigen wirtschaftlichen Interessen vorzunehmen (BGH, Beschl. v. 17.09.2014 – IX ZB 26/14, …). … Weiter zu berücksichtigen ist der Umstand, dass etwaige Nachteile durch den Planvollzug aufseiten des Beschwerdeführers über § 253 Abs. 4 Satz 3 InsO ausgeglichen werden können, während die Nachteile im Fall des Aufschubs der Planumsetzung für sämtliche Gläubiger, auch den Beschwerdeführer, nicht mehr reversibel sein dürften.

 

Anfechtungsrecht

InsbürO 2023, 206: Anfechtung von Sozialversicherungsbeiträgen nach § 133 InsO

LG Hamburg, Urt. v. 22.03.2022 – 336 O 459/17, ZInsO 2022, 2361

Aus der Begründung:

Dem Kläger (= Insolvenzverwalter) steht gegen die Beklagte (= Sozialversicherungsträger) gem. §§ 129, 133, 143 InsO der geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der angefochtenen Zahlungen i.H.v. 319.858,96 € zu. … Die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin ergibt sich bei der gebotenen wertenden Betrachtung bereits aus ihrem Zahlungsverhalten gegenüber dem HZA Berlin. Die schleppende und auch nur erzwungene Zahlung von Steuerforderungen stellt ein Indiz für die Zahlungseinstellung dar (…). … Die Beklagte muss sich … die Kenntnis des HZA Berlin … zurechnen lassen, weil das HZA unter diesem Datum zuletzt vor dem Anfechtungszeitraum für die Beklagte tätig war. Wie bereits ausgeführt, wusste das HZA Berlin zu diesem Zeitpunkt bereits um die (drohende) Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin (…). … Um eine Wissensaufspaltung zu vermeiden, wenn eine Behörde oder Sozialversicherung sich einer anderen Behörde als Vollstreckungsorgan bedient, darf sie sich nicht gegen die Erkenntnisse abschotten, welche die ersuchte Behörde bei der für sie durchgeführten Vollstreckung gewinnt (… BGH 14.02.2013 - IX ZR 115/12).

AnmerkungInsolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Gegen das Urteil wurde Berufung beim OLG eingelegt (11 U 92/19). Das OLG hatte die Entscheidung des LG Hamburg bestätigt. Eine Revision hatte das OLG nicht zugelassen. Hiergegen wurde Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingelegt. Diese hat der BGH aber mit Beschluss vom 24.03.2022 zurückgewiesen (IX ZR 180/20, n.v.). Zu dieser Thematik finden Sie einen Aufsatz von Bograkos/Sachse in der ZInsO 2022, 2396 (Ausgabe 46/2022). Darin stellen sie u.a. die bisherige Rechtsprechung zur Wissenszurechnung und die Besonderheit am aktuellen Fall näher vor.

 

InsbürO 2023, 206: Anfechtung von Zugewinnausgleich

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.09.2022 – I-12 W 12/22, ZInsO 2023, 397 (rkr.)

Zum Sachverhalt:

Es geht um eine Beschwerde gegen die Ablehnung eines PKH-Antrages eines Insolvenzverwalters für eine Anfechtung nach § 134 InsO.

Aus der Begründung:

Die Beschwerde hat Erfolg. … Wird der gesetzliche Zugewinnausgleichsanspruch … durch eine Auseinandersetzungsvereinbarung konkretisiert, handelt es sich um einen – ggf. nach § 133 Abs. 4 InsO[2] anfechtbaren – entgeltlichen Vertrag, wenn diese sich darauf beschränkt, den ohnehin gesetzlich geschuldeten Ausgleichsbetrag festzulegen. Wird in der Auseinandersetzungsvereinbarung hingegen eine den gesetzlichen Ausgleichsanspruch übersteigende Geld- oder sonstige Forderung begründet, kommt – jedenfalls hinsichtlich des Differenzbetrags – (ggf. zusätzlich) eine Anfechtung nach § 134 InsO[3] in Betracht. … Ein solcher Fall liegt hier … vor, weil die übertragenen Miteigentumsanteile des Schuldners einen Verkehrswert von mindestens 50.000 € hatten und dem Schuldner … jedenfalls i.H.v. rd. 22.500 € kein ausgleichender Gegenwert zugeflossen ist.

 

InsbürO 2023, 206: Anfechtung wegen schleppender / schlechter werdender Zahlungsweise

OLG Schleswig, Urt. v. 02.11.2022 – 9 U 63/22, ZInsO 2023, 224 (rkr.)

Aus der Begründung:

Im Ergebnis war das Zahlungsverhalten der Schuldnerin von Beginn an schleppend und wurde zunehmend schlechter. Vor allem bestand erkennbar bereits zum Zeitpunkt der Einräumung der Stundungsmöglichkeit keine Aussicht auf Besserung, da die Stundungssumme von Anfang an überschritten war. Da sich das Zahlungsverhalten auch nach Abschluss der Vereinbarung nicht besserte, musste der Beklagten spätestens am …, dem Zeitpunkt der ersten angefochtenen Abbuchung, klar sein, dass die Schuldnerin ihre Zahlungen eingestellt hatte. … Entgegen der vom LG vertretenen Auffassung ist der Umstand, dass im Zeitraum … insgesamt zehn Lastschriften mit einem Volumen zwischen … und mit einem Gesamtbetrag von 117.728,43 € nicht eingelöst werden konnten, ein erhebliches Indiz für eine Zahlungseinstellung der Schuldnerin … Rücklastschriften sind nach der Rechtsprechung des BGH als solches bereits ein gewichtiges Indiz für eine Zahlungseinstellung (BGH, Urt. v. 06.12.2012 – IX ZR 3/12, … Rn. 31 m.w.N.).

 

Steuerrecht

InsbürO 2023, 206: Wahlrecht zwischen Sofort- und Zuflussbesteuerung bei Veräußerung von Wirtschaftsgütern im Rahmen der Betriebsaufgabe

 BFH, Urt. v. 29.06.2022 – X R 6/20, ZInsO 2023, 170

Leitsatz des Gerichts:

Ein Steuerpflichtiger, der im Rahmen einer Betriebsaufgabe betriebliche Wirtschaftsgüter gegen wiederkehrende Bezüge veräußert, kann – wie bei der Betriebsveräußerung gegen wiederkehrende Bezüge – zwischen der Sofortbesteuerung und der Zuflussbesteuerung des entsprechenden Gewinns wählen.

 

InsbürO 2023, 207: Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer bei vorläufiger Eigenverwaltung als Masseverbindlichkeiten

FG Düsseldorf, Urt. v. 02.11.2022 – 4 K 3188/20 AO, ZInsO 2023, 61 (n. rkr.)

Leitsätze aus der Begründung:

  1. Die den Säumniszuschlägen zugrundeliegenden Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis in Gestalt der Vorauszahlungsbeträge und der Stromsteuer für das Kalenderjahr 2015 sind mit Zustimmung des Klägers als vorläufiger Insolvenzverwalter begründet worden. Es handelt sich mithin insoweit um Masseverbindlichkeiten i.S.d. § 55 Abs. 4 InsO. Die Säumniszuschläge teilen das Schicksal der Hauptforderungen (…). 
  2. Der Kläger (= Insolvenzverwalter) hat … zu Recht darauf hingewiesen, dass § 55 Abs. 4 InsO in der im Streitfall anzuwendenden Fassung des Art. 19 des Gesetzes v. 20.12.2011 (BGBl. I, S. 2854) nicht in den Fällen der Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung (§ 270b InsO) galt. Auch eine analoge Anwendung der Vorschrift in diesen Fällen schied aus (vgl. BGH, Urt. v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, …).
  3. Es ging dem Gesetzgeber bei der Neuregelung des § 55 Abs. 4 InsO … nicht um eine Korrektur einer nachträglich für verfassungswidrig erachteten Vorschrift. Vielmehr sollte mit der Neuregelung der Anwendungsbereich einer als unvollkommen angesehenen Regelung im Interesse des Fiskus erweitert werden.

AnmerkungInsolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Der Senat hat die Revision zugelassen, die auch eingelegt wurde. Das Aktenzeichen beim BFH lautet: VII R 35/22.

 

InsbürO 2023, 207: Billigkeitserlass für einen vor dem 09.02.2017 realisierten Sanierungsertrag nach Einführung des § 52 Abs. 4a Satz 3 EStG

FG Münster, Urt. v. 14.09.2022 – 13 K 1306/20 AO, ZInsO 2023, 174 (rkr.)

Aus der Begründung:

Es erscheint offen, ob für die durch den Schuldenerlass bei den Klägern eingetretene Betriebsvermögensmehrung im Feststellungsverfahren eine Steuerbefreiung nach § 3a EStG i.V.m. § 52 Abs. 4a Satz 3 EStG gewährt werden kann. Nach § 52 Abs. 4a Satz 3 EStG ist § 3a EStG auf Antrag des Steuerpflichtigen auch in den Fällen anzuwenden, in denen die Schulden vor dem 09.02.2017 erlassen wurden. Da die Regelung des § 3a EStG aber nur das Festsetzungs- bzw. Feststellungsverfahren betrifft, ist Voraussetzung für eine Änderung aufgrund eines wirksamen Antrags nach § 52 Abs. 4a Satz 3 EStG, dass die entsprechende Steuerfestsetzung noch nicht bestandskräftig geworden ist. … Dies deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber mit der Einführung von § 52 Abs. 4a Satz 3 EStG die Anwendung des § 3a EStG lediglich auf alle offenen Fälle bezweckt hat.

AnmerkungInsolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Das FG Münster hatte die Revision zwar wg. grds. Bedeutung zugelassen, aber sie wurde nicht eingelegt. Es ist jedoch ein anderes Revisionsverfahren zu dieser Thematik anhängig, und zwar zum AZ: IV R 1/22: „Führt ein Antrag auf Freistellung eines Sanierungsertrags nach § 52 Abs. 4a Satz 3 EStG und § 36 Abs. 2c Satz 3 GewStG in einem sog. Altfall (Schulderlass vor dem 09.02.2017) als rückwirkendes Ereignis i.S.v. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zum erneuten Anlaufen der Festsetzungsfrist nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO?“ Eine ausführliche Anmerkung von Lauer zu dieser Entscheidung finden Sie am Ende der Entscheidung in ZInsO 2023, 174 (177) (Ausgabe 4/2023).

 

Arbeitsrecht

InsbürO 2023, 207: Vorlage an EUGH: Gutschrift von Urlaubstagen bei Überschneidung von Urlaub und behördlich angeordneter Quarantäne

BAG, Beschl. v. 16.08.2022 – 9 AZR 76/22, WKRS 2022, 44268

Leitsätze des Gerichts:

Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende Frage ersucht: Sind Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahingehend auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Regelung oder Praxis entgegenstehen, der zufolge ein vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter bezahlter Jahresurlaub, der sich mit einer nach Urlaubsbewilligung durch die zuständige Behörde wegen Ansteckungsverdachts angeordneten häuslichen Quarantäne zeitlich überschneidet, nicht nachzugewähren ist, wobei beim Arbeitnehmer während der Quarantäne keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit besteht?

 

InsbürO 2023, 207 f.: Problematik des Insolvenzgeldantrages für eingestellte Arbeitnehmer nach dem Insolvenzantrag

LSG Schleswig-Holstein, 17.06.2022 - L 3 AL 24/20, WKRS 2022, 37426 (rkr.)

Zum Sachverhalt:

Am 28.04.2014 stellte eine Gläubigerin einen Insolvenzgeldantrag. Am 26.09.2014 wurde ein Sachverständiger beauftragt. Am 14.09.2014 schloss der Kläger als Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag mit der Insolvenzschuldnerin. Arbeitsbeginn sollte der 01.10.2014 sein.

Aus der Begründung

Zwar sieht § 166 Abs. 1 Nr. 2 SGB III auch einen Anspruchsausschluss vor, wenn ein Rechtsgeschäft im Fall der Insolvenzeröffnung anfechtbar wäre. Diese hypothetische Anfechtbarkeit reicht aber nur aus, wenn das Insolvenzverfahren mangels Masse oder wegen der vollständigen Einstellung der betrieblichen Tätigkeit bei Masselosigkeit nicht eröffnet worden ist. Ist ein Insolvenzverfahren tatsächlich eröffnet, so besteht ein Leistungsausschluss nur bei tatsächlicher Anfechtung des entsprechenden Rechtsgeschäfts (…). … Dieser Rechtsprechung[4] schließt sich der erkennende Senat an. Danach ist ein Rechtsgeschäft dann unwirksam, wenn den Beteiligten bei Abschluss bewusst ist, dass eine vereinbarte Leistung nicht durch den Schuldner finanziert werden kann, und deshalb ein Sozialleistungsträger wirtschaftlich mit den entsprechenden Kosten belastet wird. … Auch der erkennende Senat hält die Einstellung eines Arbeitnehmers im vorläufigen Insolvenzverfahren oder nach Eröffnungsantrag nicht per se für sittenwidrig und damit unwirksam. Vorliegend hat sich der Senat aufgrund der Gesamtumstände aber die Überzeugung gebildet, dass der Arbeitsvertrag zwischen der Firma H und dem Kläger in dem Bewusstsein abgeschlossen worden ist, dass der Arbeitgeber die Gehaltszahlungsverpflichtungen aus diesem Arbeitsvertrag aufgrund der drohenden Insolvenz nicht erfüllen kann und der Arbeitsvertrag nur abgeschlossen worden ist, um die Vergütung des Klägers letztendlich der umlagefinanzierten Insolvenzgeldversicherung aufzubürden.

AnmerkungInsolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Eine Nichtzulassungsbeschwerde wurde als unzulässig verworfen, weil der Zulassungsgrund nicht in der erforderlichen Weise dargelegt bzw. bezeichnet worden ist (BSG, Beschl. v. 17.11.2022 - B 11 AL 24/22 B, WKRS 2022, 48423).

 

Insolvenztabelle

InsbürO 2023, 208: Übergegangene Unterhaltsansprüche des Jobcenters in der Insolvenztabelle

OLG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2023 - 18 WF 181/22,WKRS 2023, 10004 (rkr.)

Zwei von fünf gerichtlichen Leitsätzen:

  1. Werden zugunsten des Jobcenter gem. § 33 SGB II übergegangene Unterhaltsansprüche tituliert und später in dem über das Vermögen des Unterhaltsschuldners eröffneten Insolvenzverfahren mit dem Zusatz nach § 302 Nr. 1 InsO zur Insolvenztabelle angemeldet, dass der Schuldner den gesetzlichen Unterhalt vorsätzlich pflichtwidrig nicht gewährt habe, kann der Schuldner im Wege des negativen Feststellungantrags geltend machen, dass die Nichtgewährung des Unterhalts nicht auf einer vorsätzlichen Pflichtwidrigkeit beruht.
  2. Soweit der Mindestunterhalt eines minderjährigen Kindes tituliert ist, kann sich der Gläubiger dabei hinsichtlich des Unterhaltsbedarfs und der -bedürftigkeit des Kindes auf § 1612a BGB[5] berufen; den Schuldner trifft in diesem Fall die sekundäre Darlegungslast hinsichtlich seiner (fehlenden) Leistungsfähigkeit.

 

Verwertungstätigkeit

InsbürO 2023, 208: Zugehörigkeit eines Anspruches auf Prozesskostenerstattung zur Insolvenzmasse

OLG Brandenburg, Beschl. v. 14.12.2022 – 6 W 36/22, ZInsO 2023, 379 (rkr.)

Zum Sachverhalt in Kürze:

Die Schuldnerin wurde zunächst verklagt. Die Klägerin nahm die Klage zurück. Die Schuldnerin hatte den Kostenerstattungsanspruch abgetreten. Der Insolvenzverwalter beantragte die Kostenfestsetzung. Es erging ein entsprechender Beschluss über 2.085,95 €. Dagegen legt die Klägerin sofortige Beschwerde ein.

Aus der Begründung:

Der Unwirksamkeit steht vorliegend … nicht entgegen, dass der abtgetretene Erstattungsanspruchs ein Klageverfahren betraf, das erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingeleitet worden ist. Nach § 35 Abs. 1 InsO erfasst das Insolvenzverfahren das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört und das er während des Verfahrens erlangt. … Ansprüche auf Prozesskostenerstattung gehören … zur Insolvenzmasse, wenn der die Erstattungsforderung begründende Sachverhalt vor oder während des Insolvenzverfahrens verwirklicht wurde (BGH, Urt. v. 01.02.2007 – IX ZR 178/05). … Das Kostenfestsetzungsverfahren beschränkt sich auf die Berücksichtigung kostenrechtlicher Aspekte. … Materiell–rechtliche Einwendungen und auch Aufrechnungserklärungen … sind von daher hier grds. irrelevant.

 

InsbürO 2023, 208: Strafprozessuale Entschädigung gegen insolvent gewordenen Einziehungsadressaten

OLG Zweibrücken, Beschl. v. 02.11.2022 – 1 Ws 77/22, ZInsO 2023, 105 (rkr.)

Leitsätze des Gerichts:

  1. Wird vor Abschluss des Entschädigungsverfahrens die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Einziehungsadressaten beschlossen, können die Antragsteller, die die Auskehrung des Verwertungserlöses begehren, gem. § 459h Abs. 2 Satz 2, § 111i StPO Entschädigung ausschließlich im Insolvenzverfahren erlangen.
  2. Die Frage, ob den Antragstellern wegen eines gegen den Einziehungsadressaten erwirkten Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses ein Absonderungsrecht gem. § 50 InsO zusteht, ist eine originär insolvenzrechtliche und daher nicht von den Strafgerichten zu klären.

Zum Sachverhalt:

Der eingesetzte Insolvenzverwalter forderte die Staatsanwaltschaft Frankenthal (Pfalz) … zur Zahlung der 11.800 € an die Insolvenzmasse auf. Dieser Forderung widersprachen die Antragsteller.

Aus der Begründung:

Gepfändete Gegenstände sowie der Erlös aus ihrer Verwertung werden für das Insolvenzverfahren frei. Mit … wird der Vorrang der insolvenzrechtlichen Lösung festgelegt (…).

 

Vertragsverhältnisse

InsbürO 2023, 209: Betriebsschließungsversicherung in der COVID-19-Pandemie

BGH, Urt. v. 18.01.2023 - IV ZR 465/21,WKRS 2023, 10742

(IV. Senat = u.a. zuständig für Versicherungsvertragsrecht)

Amtliche Leitsätze:

a) Die Regelung in der Klausel Ziff. 3.4 BBSG 19 ("Bedingungen für die Betriebsschließungs-Pauschalversicherung Gewerbe"), wonach meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger i.S.d. Bedingungen die im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten und Krankheitserreger sind, ist unklar i.S.v. § 305c Abs. 2 BGB. Sie kann den durchschnittlichen Versicherungsnehmer jedenfalls auch zu dem Verständnis führen, dass der Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls maßgeblich ist.

b) Nach den Regelungen in Ziff. 3.1, 3.4 BBSG 19 setzt der Eintritt des Versicherungsfalls die namentliche Nennung der Krankheit oder des Krankheitserregers in den §§ 6 und 7 IfSG im Zeitpunkt der Betriebsschließung voraus. Eine Erweiterung der Meldepflicht für in diesen Regelungen nicht namentlich genannte Krankheiten und Krankheitserreger durch eine auf der Grundlage von § 15 Abs. 1 IfSG erlassene Rechtsverordnung genügt nicht.

Aus der Begründung:

Die Revisionen der Klägerin und der Beklagten … werden zurückgewiesen. … Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin gegen die Beklagte Ansprüche aus einer bei dieser gehaltenen Betriebsschließungsversicherung wegen der tlw. Einstellung des Hotelbetriebs der Klägerin … im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie zustehen. … Das LG hat ein Grund- und Teilurteil erlassen, demzufolge die Zahlungsklage dem Grunde nach gerechtfertigt und die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den aus der erneuten Schließung des versicherten Betriebes entstandenen Schaden zu ersetzen. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG die Zahlungsklage insgesamt abgewiesen und das weitergehende Rechtsmittel zurückgewiesen.

 

Vollstreckungsrecht

InsbürO 2023, 209: Elektronische Vollstreckungsaufträge und qualifizierte Signatur

AG Düsseldorf, Beschl. v. 23.11.2022 – 660 M 1255/22, ZInsO 2023, 160 (rkr.)

Leitsätze des Gerichts:

  1. Vollstreckungsaufträge nach § 7 JBeitrG sind gem. § 130d ZPO elektronisch zu übermitteln und bedürfen einer qualifizierten elektronischen Signatur, um als Titelersatz fungieren zu können (Weiterführung von BGH B. v. 14.12.2014 – I ZB 27/14). 
  2. Eines grafischen oder elektronischen Siegels bedarf es zumindest dann nicht, wenn das der Signatur zugrundeliegende Zertifikat die Behörde erkennen lässt.

Aus der Begründung:

Ob und in welcher Form das Erfordernis eines Siegels bei einer hier zwingend gem. § 130d ZPO vorgeschriebenen elektronischen Übermittlung des titelersetzenden Auftrages nach § 7 JBeitrG gewahrt, also gleichsam in die digitale Welt übertragen werden kann, ist im Bereich des JBeitrG nicht geregelt und soweit ersichtlich auch in Rechtsprechung und Literatur nicht oder nicht abschließend geklärt. …  Der sichere Übermittlungsweg von einem besonderen elektronischen Behördenpostfach bietet eine gesteigerte Gewähr für die Echtheit des Dokuments. … Aus § 8 Abs. 4 ERVV ergibt sich, dass der Postfachinhaber zu dokumentieren hat, wer zugangsberechtigt ist und er hat zugleich sicherzustellen, dass der Zugang zu seinem besonderen elektronischen Behördenpostfach nur den von ihm bestimmten Zugangsberechtigten möglich ist. … Das übermittelte, signierte Dokument lässt inhaltlich die Behörde erkennen. Schließlich weist das Zertifikat auch die Zugehörigkeit der namentlich genannten, qualifiziert signierenden Person zur Behörde aus. … Die Zurverfügungstellung einer Signaturkarte mit einem solchen Zertifikat entspricht damit im Wesentlichen der Überlassung eines klassischen Dienstsiegels durch den Dienstherrn. … Das Gericht sieht keinen Anlass, außerhalb einer expliziten gesetzlichen Regelung für den elektronischen Rechtsverkehr Anforderungen an den Nachweis von Echtheit, Zuständigkeit und Authentizität behördlicher Erklärungen zu stellen, die in konventioneller Form nicht erfüllt werden konnten und folgerichtig auch von der zitierten Rechtsprechung des BGH[6] nicht gestellt wurden. … Vor diesem Hintergrund erweist sich die Beanstandung des Gerichtsvollziehers im Ergebnis als unberechtigt und war er zur Durchführung des Vollstreckungsauftrages nach Maßgabe des Tenors anzuweisen.

 

Europäisches / internationales Recht

InsbürO 2023, 209 f.: Speicherung der Restschuldbefreiung in der Schufa nach 6 Monaten nicht mehr rechtmäßig

EuGH v. 16.03.2023 - C-26/22 -Schlussanträge des Generalanwalts

Aus dem Text:

VI. Ergebnis, Rn. 105: Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Verwaltungsgerichts Wiesbaden (Deutschland) wie folgt zu beantworten: 1. … 2. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. f der Verordnung 2016/679[7] ist dahin auszulegen, dass er einer Speicherung personenbezogener Daten aus einem öffentlichen Register, wie den „nationalen Datenbanken“ …, durch eine private Wirtschaftsauskunftei über einen Zeitraum, der über denjenigen hinausgeht, in dem die Daten im öffentlichen Register gespeichert werden, entgegensteht. … 3. … Art. 17 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass die betroffene Person grds. das Recht hat, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, wenn sie gem. Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung Widerspruch gegen die Verarbeitung einlegt. …   4. Art. 40 Abs. 2 und 5 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass Verhaltensregeln, die gem. diesen Bestimmungen ausgearbeitet und ggf. von der Aufsichtsbehörde genehmigt werden, die Bedingungen für eine rechtmäßige Verarbeitung personenbezogener Daten, die von den in Art. 6 Abs. 1 dieser Verordnung festgelegten Bedingungen abweichen, nicht rechtlich verbindlich festlegen können. …

AnmerkungInsolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Immer wieder gab es Entscheidungen dazu, ob private Auskunfteien die Informationen zur erteilten Restschuldbefreiung auch nach der Löschung im öffentlichen Register noch speichern dürfen. Wir hatten hierzu unterschiedliche Auffassungen in verschiedenen Entscheidungen veröffentlicht[8] und auf die Vorlage an den EuGH verwiesen[9]. Nunmehr hat der Generalanwalt des EuGHs seine Schlussanträge veröffentlicht. Er hält die längere Speicherfrist für unrechtmäßig. Die Auskunfteien hätten sich an den Löschungsfristen für die öffentlichen Register zu orientieren. Nach § 3 Abs. 2 InsBekV[10] ist § 3 Abs. 1 InsBekV anwendbar mit der Maßgabe, dass die Löschungsfrist von 6 Monaten mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Restschuldbefreiung zu laufen beginnt. Nach 6 Monaten wird die Restschuldbefreiung also im öffentlichen Register gelöscht. In Rn. 89 führt der Generalanwalt aus:  „Die vorstehende Analyse führt mich zu dem Ergebnis, dass die Praxis der Wirtschaftsauskunfteien, personenbezogene Daten aus öffentlichen Registern für die Dauer von drei Jahren zu speichern, mit den in der DSGVO verankerten Grundsätzen für die Verarbeitung personenbezogener Daten nicht in Einklang steht.“

 

InsbürO 2023, 210: Vermögensweggabe und Folgen für PKH-Antrag

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.06.2022 – I-12 W 4/22, ZInsO 2022, 2409 (rkr.)

Aus der Begründung:

Die … Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Das LG hat den PKH-Antrag des Beklagten … zu Recht zurückgewiesen. … Dem Kläger steht nach dem derzeitigen Verfahrensstand auf der Grundlage seines hinreichend substanziierten und schlüssigen Vorbringens der geltend gemachte Ersatzanspruch gegen den Beklagten aus § 64 Satz 1 GmbHG … zu. … Überträgt der Beklagte … ein Grundstück, welches einen wesentlichen Teil seines Vermögens ausmacht, … auf seine Ehefrau, ohne die für diesen Rechtsstreit notwendigen Mittel zurückzuhalten – und ohne seinen Miteigentumsanteil in der Erklärung … überhaupt anzugeben –, so hat er seine Bedürftigkeit vorsätzlich herbeigeführt. Wenn – wie hier – nicht nur mit der Möglichkeit eines Gerichtsverfahrens gerechnet werden muss, sondern vielmehr die Einleitung eines solchen erkennbar beabsichtigt ist, dann hat eine Partei vernünftige Vorsorgemaßnahmen zu treffen, ihre Rechtsverteidigung in dem beabsichtigten Prozess aus eigenen Mitteln bestreiten zu können (…). … Bei dieser Sachlage ist es evident, dass der Beklagte das ansonsten von ihm zu tragende Prozesskostenrisiko auf die Allgemeinheit abwälzen will. Dies ist mit dem Gebot der Sparsamkeit staatlicher Leistungen und der Subsidiarität der PKH nicht vereinbar (…).

 


[1] Ergänzung der Schriftleitung: § 253 InsO – Rechtsmittel, Abs. 4: „Auf Antrag des Insolvenzverwalters weist das Landgericht die Beschwerde unverzüglich zurück, wenn das alsbaldige Wirksamwerden des Insolvenzplans vorrangig erscheint, weil die Nachteile einer Verzögerung des Planvollzugs nach freier Überzeugung des Gerichts die Nachteile für den Beschwerdeführer überwiegen; …“

[2] § 133 InsO – Vorsätzliche Benachteiligung, Abs. 4: Entgeltliche Verträge mit nahestehenden Personen

[3] § 134 InsO – Unentgeltliche Leistungen

[4] BSG v. 18.04.2004 - B 11 AL 57/03 R; BGH v. 17.09.1986 - IVB ZR 59/85

[5]§ 1612a BGB - Mindestunterhalt minderjähriger Kinder …

[6] BGH v. 18.12.2014 - I ZB 27/14 und v. 14.12.2016 - V ZB 88/16.

[7] Ergänzung der Schriftleitung: kurz: DSGVO = Datenschutzgrundverordnung

[8]Beachtung der Löschungsfrist und Ablehnung längerer Speicherfrist: OLG Schleswig, Urt. v. 02.07.2021 – 17 U 15/21, InsbürO 2021, 454; für eine längere Speicherfrist: OLG Oldenburg (13. Zivilsenat), Urt. v. 23.11.2021 – 13 U 63/21, InsbürO 2022, 85 m.w.N.

[9] InsbürO 22, 85

[10]InsBekV = Verordnung zu öffentlichen Bekanntmachungen in Insolvenzverfahren und Restrukturierungssachen im Internet