16.11.2021

Aus der Rechtsprechung

Rechtsprechungsüberblick

Nachfolgende Texte wurden in ähnlicher Form in der InsbürO - einer Zeitschrift für die Insolvenzpraxis - veröffentlicht. Die Zeitschrift erscheint im Carl Heymanns Verlag, Wolters Kluwer Deutschland GmbH. Unsere Mitarbeiterin Michaela Heyn ist Schriftleiterin und Mitherausgeberin dieser Zeitschrift.

 

Novemberheft 2021

 

Insolvenzverfahren natürlicher Personen

InsbürO 2021, 456: Keine Vorratsdatenspeicherung von Restschuldbefreiungen

VG Wiesbaden, Urt. v. 07.06.2021 – 6 K 307/20 WI, ZInsO 2021, 1972

Einer von fünf Leitsätzen:

Eine Speicherung von Restschuldenbefreiungen dürfte nur zulässig sein, wenn zum Zeitpunkt der Datenübermittlung bereits ein konkretes Auskunftsbegehren über die wirtschaftliche Situation einer betroffenen Person bei der verantwortlichen Stelle vorliegen würde. Anderenfalls dürfte die Grundrechtsabwägung im Einzelfall zu Gunsten der betroffenen Person ausgehen. Dies mit der Folge, dass die Speicherung bei der Beklagten nicht „fair“, also nicht rechtmäßig, da auf Vorrat, wäre.

Zum Sachverhalt:

Die Klägerin erklärt, dass sie aufgrund des Negativeintrages der Beigeladenen (= Auskunftei) massiv in ihrer Lebensführung eingeschränkt sei. Sie sei vergeblich auf der Suche nach einem Arbeitsplatz und einer Wohnung. Es sei unmöglich, einen Ratenkredit zu bekommen. Auch sei es ihr nicht möglich, die Bankverbindung zu wechseln.

Aus der Begründung:

In der nationalen Verordnung zu öffentlichen Bekanntmachungen in Insolvenzverfahren im Internet … (InsoBekV …) sind in § 3 InsoBekV die Löschfristen im Einzelnen wie folgt geregelt: … Damit ist im öffentlichen Register die Restschuldbefreiung nach 6 Monaten zu löschen. Warum dies bei der Beigeladenen anders sein soll, ist nicht ersichtlich. … Die derzeit durch die Justizverwaltungen praktizierte Übermittlung aller Eintragungen aus dem Insolvenzregister an Wirtschaftsauskunfteien erscheint unter diesen europarechtlichen Umständen höchst bedenklich, insbesondere da hier wohl ein Entgelt von der öffentlichen Hand erhoben wird. … Hinzu kommt, dass die betroffene Person über die Einmeldung bei der Beigeladenen und bei jeder anderen Wirtschaftsauskunftei von dieser wegen einer Datenerhebung bei einem Dritten (hier der Justizverwaltung) nach Art. 14 DS-GVO zu unterrichten sein dürfte (vgl. Erwägungsgrund 47 DS-GVO).

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Zum Zeitpunkt der Druckfreigabe ist ein Berufungsverfahren beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof (HessVGH) unter dem AZ: 10 A 1651/21.Z anhängig. Mit der gleichen Argumentation hatte das OLG Schleswig entschieden und die insolvenzrechtliche Löschungsfrist als Maßstab auch für die Auskunfteien gesetzt (Urt. v. 02.07.2021 – 17 U 15/21, InsbürO 2021, 454).

 

Anfechtungsrecht

InsbürO 2021, 452 ff. Änderung der Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO

BGH, Urt. v. 06.05.2021 - IX ZR 72/20, ZInsO 2021, 1627

Amtlicher Leitsätze:

  1. Die Annahme der subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung kann nicht allein darauf gestützt werden, dass der Schuldner im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung erkanntermaßen zahlungsunfähig ist.
  2. Der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners setzt im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit zusätzlich voraus, dass der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen.
  3. Für den Vollbeweis der Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners muss der Anfechtungsgegner im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im maßgeblichen Zeitpunkt zusätzlich wissen, dass der Schuldner seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen.
  4. Auf eine im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung nur drohende Zahlungsunfähigkeit kann der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners i.d.R. nicht gestützt werden.
  5. Eine besonders aussagekräftige Grundlage für die Feststellung der Zahlungseinstellung ist die Erklärung des Schuldners, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können; fehlt es an einer solchen Erklärung, müssen die für eine Zahlungseinstellung sprechenden sonstigen Umstände ein der Erklärung entsprechendes Gewicht erreichen.
  6. Stärke und Dauer der Vermutung für die Fortdauer der festgestellten Zahlungseinstellung hängen davon ab, in welchem Ausmaß die Zahlungsunfähigkeit zutage getreten ist; dies gilt insbesondere für den Erkenntnishorizont des Anfechtungsgegners.


Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Mit vorstehender Entscheidung gibt es in der Rechtsprechung zu § 133 InsO eine neue Richtung, die bei der Geltendmachung von Anfechtungsansprüchen nach diesem Tatbestand zu berücksichtigen ist. So erläutert der BGH selbst – wie vorstehend ersichtlich (Rn. 30) -, dass die bisherige Rechtsprechung auf die Vermutungswirkung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO ausgerichtet war, wonach die Kenntnis des Anfechtungsgegners von der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit auch die Kenntnis vom Benachteiligungs-vorsatz des Schuldners nahelegte. Nunmehr sollen objektive Tatsachen in den Vordergrund rücken, die belegen, ob der Schuldner ggf. in Ausnahmefällen tatsächlich im Zeitpunkt der Rechtshandlung davon ausgehen durfte, seine Gläubiger (zukünftig) noch vollständig befriedigen zu können. Dies führt aber wohl nicht zu einer grds. Änderung in den Voraussetzungen – höchstens in der Prüfung - denn der BGH spricht von einer „nicht zu vernachlässigenden Zahl der Fälle“, was bedeutet, dass es zwar Fälle geben kann, in denen der Schuldner tatsächlich noch Gründe hatte, die ihm die berechtigte Hoffnung gaben, alle Gläubiger befriedigen zu können. Sollte er aber im Zeitpunkt der Rechtshandlung bereits zahlungsunfähig gewesen sein – was sich später anhand der – wie der BGH ausführt – hergebrachten Grundsätze feststellen lässt, bleibt es auch bei der Vermutungswirkung beim Gläubiger bzgl. der Kenntnis vom Benachteiligungsgrundsatz des Schuldners. Es geht also mit dieser Entscheidung um die Möglichkeit, Ausnahmefälle in den Blick zu nehmen, in denen der Schuldner ggf. tatsächlich nicht mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz gehandelt hat.

 

InsbürO 2021, 457: Schuldner als Rechtsnachfolger im anfechtbaren Erwerb

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.05.2021 – I-12 W 3/21, ZInsO 2021, 1456 (rkr.)

Gerichtliche Leitsätze:

 

  1. Auch der Schuldner selbst kann Rechtsnachfolger im anfechtbaren Erwerb werden. Sonderrechtsnachfolge i.S.d. § 145 Abs. 2 InsO setzt nicht die Vollübertragung des anfechtbar Erlangten voraus, sondern kann schon vorliegen, wenn aus dem anfechtbar Erworbenen ein neues, beschränktes Recht geschaffen oder eine besondere Befugnis abgezweigt wird.
  2. Hat der Schuldner seinen Miteigentumsanteil an einem Grundstück an den anderen Miteigentümer anfechtbar übertragen und räumt dieser ihm sodann ein Mitbenutzungsrecht am gesamten Grundbesitz ein (§ 1090 BGB), so ist der Schuldner hinsichtlich des Mitbenutzungsrechts als Rechtsnachfolger anzusehen, weil erst die Übertragung seines Miteigentumsanteils die Belastung des gesamten Grundstücks ermöglicht hat.
  3. Das zugunsten des Schuldners anfechtbar begründete Mitbenutzungsrecht erlischt wegen § 889 BGB nicht schon bei Rückübereignung des Miteigentumsanteils an diesen. Vielmehr bedarf es seiner rechtsgeschäftlichen Aufhebung gem. § 875 BGB.

 

Zum Sachverhalt:

Nachdem der Insolvenzverwalter zunächst den Ehemann der Schuldnerin auf Rückübertragung des Miteigentumsanteils an die Schuldnerin gem. §§ 143 Abs. 1, 133 Abs. 1, 129 Abs. 1 InsO verklagt hatte, hat er die Klage auf die Schuldnerin erweitert und begehrt, dass diese erklärt, dass sie das zu ihren Gunsten auf dem Hausgrundstück eingetragene Mitbenutzungsrecht aufgibt und dessen Löschung im Grundbuch bewilligt (§ 875 BGB, § 19 GBO).

Aus der Begründung:

Nach der Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ist … von der Kenntnis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Beklagten zu 1) (= Ehemann) auszugehen. Selbst wenn er … keine Kenntnis von der Zahlungseinstellung der Schuldnerin gehabt hätte und die Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht griffe, so waren ihm jedenfalls die Umstände des Vertragsschlusses vollständig bekannt. Der einzig ersichtliche, allein auf die Interessen der Eheleute gerichtete Zweck des Übertragungsvertrages, das Hausgrundstück als gemeinsamen Wohnsitz zu erhalten und dem Zugriff der Gläubiger der Beklagten zu 2) (= Schuldnerin) dauerhaft zu entziehen, bildet ein Indiz dafür, dass ihm der Benachteiligungsvorsatz der Schuldnerin bekannt war (…).

 

Restschuldbefreiungsverfahren

InsbürO 2021, 449 f.: Unzulässigkeit eines Restschuldbefreiungsantrages im Zweitinsolvenzverfahren

BGH, Beschl. v. 22.07.2021 - IX ZB 7/20, ZInsO 2021, 2022

Leitsatz des Bearbeiters:

Ein erneuter Antrag auf Restschuldbefreiung in einem Folgeinsolvenzverfahren über das Vermögen einer aus dem Erstinsolvenzverfahren freigegebenen Selbstständigkeit ist in analoger Anwendung des § 287a Abs. 2 Nr. 1 InsO unzulässig. Auch ein Antrag auf Stundung der Verfahrenskosten ist in diesem Fall unzulässig.

Anmerkung RA Kai Henning, Dortmund:

Der 9. Zivilsenat des BGH bestätigt in dieser Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung zur Unzulässigkeit eines erneuten Restschuldbefreiungsantrages in einem Folgeinsolvenzverfahren über das Vermögen einer aus dem Erstinsolvenzverfahren freigegebenen Selbstständigkeit. Er folgert die Unzulässigkeit aus einer analogen Anwendung des § 287a Abs. 2 Nr. 1 Fall 1 InsO. Grds. könnte entgegen dieser Feststellung zwar daran gedacht werden, dem Schuldner in dem Folgeinsolvenzverfahren nur Restschuldbefreiung gegenüber den Gläubiger zu gewähren, deren Forderung nach Eröffnung des Erstverfahrens in Zusammenhang mit der freigegebenen Selbstständigkeit entstanden sind. Der BGH zeigt aber zutreffend auf, dass dies ein Widerspruch zu § 287a Abs. 2 Nr. 1 InsO wäre, nach dem nach erteilter Restschuldbefreiung eine 10-jährige Sperrfrist gilt. Diese Sperrfrist würde der Schuldner mit einem weiteren Antrag auf Restschuldbefreiung hinsichtlich seiner Neugläubiger unterlaufen.

Ohne zulässigen Antrag auf Restschuldbefreiung kommt auch eine Stundung der Verfahrenskosten nicht in Betracht. Eine Eröffnung des Folgeinsolvenzverfahrens über das Vermögen der freigegebenen Selbstständigkeit kann daher nur erfolgen, wenn eine ausreichende Masse zur Deckung der Verfahrenskosten vorhanden ist. Dem Schuldner bleibt die Möglichkeit, das Erstverfahren durch Rücknahme des Antrags auf Restschuldbefreiung zu beenden (siehe hierzu aktuell BGH, Beschl. v. 15.07.2021 - IX ZB 33/20 Rn. 11) um anschließend ein erneutes Insolvenzverfahren gegenüber allen Gläubigern zu beginnen. Dies dürfte nach den aktuellen Gesetzesänderungen gerade dann sinnvoll ein, wenn das Erstverfahren nach altem Recht über 5 bzw. 6 Jahre läuft, während das neu zu beginnende Verfahren nur eine Laufzeit von drei Jahren hätte.

 

Arbeitsrecht

InsbürO 2021, 457: (Keine) Unwirksame Kündigung wegen Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht

LAG Niedersachsen, Urt. v. 24.02.2021 – 17 Sa 890/20, ZInsO 2021, 1916

Leitsatz des Gerichts:

Ein Verstoß gegen die Unterrichtungspflicht des § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

Zum Sachverhalt:

Der Betriebsrat sei ordnungsgemäß angehört und auch die Massenentlassungsanzeige gem. § 17 KSchG sowie das dazugehörige Konsultationsverfahren ordnungsgemäß von der Beklagten (= Sachwalter) durchgeführt worden. Die entgegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht gleichzeitige Zuleitung einer Abschrift der schriftlichen Unterrichtung des                  Betriebsrats nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG an die Agentur für Arbeit führe … nicht zur Rechtsunwirksamkeit der Kündigung. Denn § 17 Abs. 3 Satz 1KSchG sei kein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB.

Aus der Begründung:

Dagegen, dass allein der Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG zur Unwirksamkeit der Kündigung führen soll, spricht schon, dass bereits Satz 2 ein späteres Stadium im Massenentlassungsverfahren, nämlich die Erstattung der Anzeige selbst i.S.d.§ 17 Abs. 1 KSchG beschreibt.

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Revision wurde zugelassen und ist auch eingelegt worden. Das Verfahren ist zum Zeitpunkt der Druckfreigabe beim BAG unter dem AZ: 6 AZR 155/21 anhängig.

 

Insolvenztabelle

InsbürO 2021, 450 f.: Zur Kostentragungspflicht des Schuldners nach Widerspruch

LG Heilbronn, Beschl. v. 12.05.2021 - Zo 10 O 31/21

Leitsatz des Bearbeiters:

Der Schuldner hat die Kosten eines auf seinen Widerspruch folgenden Feststellungsverfahrens auch dann zu tragen, wenn er den Widerspruch nach Klageerhebung umgehend zurücknimmt.

Anmerkung RA Kai Henning, Dortmund:

Diese kurz gefasste, aber zutreffende Entscheidung des LG Heilbronn lenkt unseren Blick auf den Widerspruch des Schuldners gegen in seinem Insolvenzverfahren angemeldete Forderungen. Ein Widerspruch des Schuldners kann unter verschiedenen Aspekten erfolgen. Zum einen kann der Schuldner der Forderung als solcher oder im Ganzen widersprechen, was zwar gem. § 178 Abs. 1 InsO die Feststellung der Forderung zur Tabelle nicht hindert, aber gem. § 201 Abs. 2 InsO dem Gläubiger die Möglichkeit nimmt, nach Verfahrensaufhebung aus der Tabelle gegen den Schuldner zu vollstrecken. Zum anderen kann der Schuldner einen auf den besonderen Forderungsgrund begrenzten Widerspruch gegen eine gem. § 174 Abs. 2 InsO angemeldete vorsatzdeliktische Forderung erheben (vgl. BGH, Urt. v. 18.01.2007 - IX ZR 176/05, ZInsO 2007, 265). Diesen Widerspruch gegen eine vorsatzdeliktische Anmeldung kann nur der Schuldner, nicht aber der Verwalter erheben (BGH, Urt. v. 17.01.2008 - IX ZR 220/06, InsbürO 2008, 155 = ZInsO 2008, 325). Die Gefahr des Widerspruchs des Schuldners gegen die Forderung als solche verdeutlicht die vorliegende Entscheidung. Denn der Schuldner geht mit diesem Widerspruch ins Kostenrisiko eines nach seinem Widerspruch folgenden Feststellungsverfahrens. Die Kosten dieses nach Insolvenzeröffnung begonnenen Rechtstreits sind Neugläubigerforderungen, die von der Restschuldbefreiung nicht erfasst werden. Der Schuldner sollte daher nicht unüberlegt der Forderung als solcher widersprechen, wenn es ihm nur darum geht, die Feststellung des besonderen vorsatzdeliktischen Forderungsgrunds zu verhindern.

 

InsbürO 2021, 457: Haftungsanspruch nach § 69 AO in der Insolvenztabelle

BFH, Urt. v. 19.01.2021 – VII R 38/19, ZInsO 2021, 1496

(VII. Senat = u.a. zuständig für allgemeines Abgabenrecht)

Aus der Begründung:

Rn. 26: Ob eine Insolvenzforderung vorliegt, richtet sich danach, wann der Rechtsgrund für den streitigen Anspruch gelegt worden ist (…). Der Rechtsgrund für Steueransprüche, zu denen auch der Haftungsanspruch nach § 69 AO gehört (§ 37 Abs. 1 AO), ist gelegt, wenn der gesetzliche (Besteuerungs-)Tatbestand verwirklicht wird (…). Rn. 27: Für die insolvenzrechtliche Begründung der Haftungsforderung kommt es deshalb weder auf die zugrunde liegende Steuerschuld noch auf den Erlass des Haftungsbescheids an, sondern darauf, ob die für die Haftung maßgebliche Handlung bzw. Unterlassung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begangen wurde (…).

 

Vertragsverhältnisse

InsbürO 2021, 458: Schadensersatz wg. Vertragsverletzung

LG Bochum, Urt. v. 16.06.2021 – I-15 O 145/20, ZInsO 2021, 1499

Aus der Begründung:

Der Kläger (= Insolvenzverwalter) hat einen Anspruch auf Schadensersatz i.H.v. 3.393,96 € gem. §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB i.V.m. § 80 Abs. 1 InsO. Die Beklagte (= IT-Unternehmen) hat mit der Anweisung an die D (= Vermieterin eines Servers) zur Vernichtung des Dongles eine vertragliche Nebenpflicht aus dem zwischen ihr und der Insolvenzschuldnerin … geschlossenen Anwendungsdienstleistungsvertrag verletzt. Nach § 241 Abs. 2 BGB hat jede Vertragspartei die Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter und Interessen der jeweils anderen Partei. Dies beinhaltet insbesondere auch die Rücksichtnahme auf im Eigentum des Vertragspartners stehenden Gegenstände; gerade auch solche, die zum Zwecke der Vertragsdurchführung die eine Partei der anderen zeitweilig überlassen hat. Im Zeitpunkt der Anweisung der Beklagten an die D befanden sich der Dongle sowie der auf dem Dongle gespeicherte Zugang zu den seinerzeit zehn C Lizenzen im Eigentum der Insolvenzschuldnerin. Für die Beklagte bestand somit die Pflicht, die Integrität des Dongles zu schützen. Dieses Integritätsinteresse hat die Beklagte durch die Anweisung an die D aus April 2019 zur Vernichtung des Dongles verletzt. Die Beklagte hätte den Kläger durch transparente und vorbehaltlose Kommunikation unschwer in die Lage versetzen können, den Dongle bei der D in Empfang zu nehmen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht durch die Erwägung datenschutzrechtlicher Aspekte. Auf dem Dongle befinden sich keine personenbezogenen Daten i.S.d. Art. 4 DSGVO.

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Gegen die vorstehende Entscheidung wurde Berufung eingelegt. Sie war bei Druckfreigabe beim OLG Hamm unter dem AZ: 12 U 144/21 anhängig.

 

InsbürO 2021, 458: Rückerstattung von Flugpreis nach coronabedingter Flugannullierung

LG Frankfurt/M., Urt. v. 10.08.2021 – 2-24 S 42/21, ZInsO 2021, 2031

Zum Sachverhalt:

Die Kläger begehren die Rückerstattung des Flugpreises nach coronabedingter Flugannullierung. Die erste Instanz (AG Frankfurt/M, Urt. v. 27.11.2020 – 31 C 2352/20 (15), InsbürO 2021, 254) hatte der Klage stattgegeben und eine Zahlung als Masseverbindlichkeit bestätigt.

Aus der Begründung:

Zwar wäre ein Anspruch auf Erstattung des Beförderungsentgeltes gem. Art. 8 Abs. 1a) der Verordnung eine Masseverbindlichkeit i.S.v. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Ein solcher Anspruch steht den Klägern allerdings nicht zu. Vielmehr steht ihnen lediglich ein in Geld umgewandelter Beförderungsanspruch zu, bei dem es sich um eine Insolvenzforderung handelt i.S.v. §§ 38 – 45 InsO. … Im Fall einer vollständigen Vorleistung des Vertragspartners des Insolvenzschuldners realisiert sich dessen Insolvenzrisiko, und er kann – außerhalb des Anwendungsbereichs des § 103 InsO – die Gegenleistungsansprüche nach allgemeinen Grundsätzen nicht mehr durchsetzen, sondern muss diese als Insolvenzforderung zur Tabelle anmelden (BGH …). Vorliegend hatten die Kläger ihre Leistungspflicht, die Zahlung des Beförderungsentgelts, bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig erbracht, sodass der Anwendungsbereich von § 103 InsO nicht eröffnet ist, und der Sachwalter der Beklagten keine Befugnis hatte, den Vertrag fortzusetzen.

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Revision war zum Zwecke der Rechtsfortbildung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Es konnte bis zur Druckfreigabe aber nicht in Erfahrung gebracht werden, ob sie auch eingelegt wurde.

 

Vergütungsrecht

InsbürO 2021, 451 f.: Abschlag auf Mindestvergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters

AG Hannover, Beschl. v. 27.05.2021 – 908 IN 179/20-0 (rkr.)

Leitsatz des Bearbeiters:

Auf die Mindestvergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters kann gem. § 10 InsVV i.V.m. § 2 Abs. 2 InsVV ein Abschlag erfolgen.

Anmerkung RiAG Ulrich Schmerbach, Göttingen:

Fälle wie der Vorliegende kommen in der Praxis immer wieder vor. Der Schuldner verweigert zunächst jegliche Mitarbeit. Bemerkt er, dass es „ernst“ wird, wie z.B. durch die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters, begleicht er zügig die dem Antrag zugrunde liegende Forderung. Der vorläufige Insolvenzverwalter muss dann mit Abschlägen auf die Mindestvergütung rechnen.

 

InsbürO 2021, 458: Berücksichtigung von Forderungen aus der vorläufigen Verwaltung in beiden Berechnungsgrundlagen

LG Berlin, Beschl. 17.05.2021 – 84 T 152/19, ZInsO 2021, 1248 (rkr.)

Aus der Begründung:

Eine Forderung des Schuldners, die bis zum Ende des Eröffnungsverfahrens besteht, muss als Teil der Ist-Masse in die Berechnungsgrundlage für die Vergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters aufgenommen werden, auch wenn sie erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens beglichen wird (vgl. BGH, …). Daraus folgt aber nicht, dass die während des eröffneten Verfahrens zum Ausgleich der Forderung in die Masse gezahlten Beträge nicht auch Teil der Berechnungsgrundlage für die Vergütung des (endgültigen) Insolvenzverwalters werden. … Es führt vergütungsrechtlich nicht zu einer doppelten Berücksichtigung desselben wirtschaftlichen Werts, wenn dieser Wert zum einen als offene Forderung in die Berechnungsgrundlage für die Vergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters und zum anderen als Geldbetrag in der Berechnungsgrundlage für die Vergütung des Insolvenzverwalters eingeht. Beide Amtsträger haben unterschiedliche Funktionen, die jeweils eigens zu vergüten sind.

 

InsbürO 2021, 458 f.: Vergütungsanspruch des Nachlassinsolvenzverwalters nach Amtsüberleitung aus Verbraucherinsolvenzverfahren

AG Norderstedt, Beschl. v. 21.05.2021 – 66 IN 206/19, ZInsO 2021, 1468

Amtlicher Leitsatz:

In einem die Voraussetzungen des § 13 InsVV erfüllenden Verbraucherinsolvenzverfahren mit Kostenstundung, das nach Tod des Schuldners in ein Nachlassinsolvenzverfahren übergeleitet wird, kann der Nachlassinsolvenzverwalter, wenn die Verfahrenskosten nicht aus der Insolvenzmasse gedeckt werden können, gegenüber der Landeskasse nur die sich nach § 13 InsVV ergebende Vergütung beanspruchen.

               

InsbürO 2021, 459: Vorschussanspruch eines Gläubigerausschussmitgliedes

BGH, Beschl. v. 22.07.2021 - IX ZB 47/19, ZInsO 2021, 2133

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)

Amtlicher Leitsatz:

Die Anordnung eines Vorschusses auf die Vergütung des Mitglieds des Gläubigerausschusses stellt keine vollstreckungsfähige Entscheidung dar, sondern lediglich eine insolvenzgerichtliche Erlaubnis, die im Wege der Aufsicht durch das Insolvenzgericht durchzusetzen ist.

 

Europäisches / internationales Recht

InsbürO 2021, 459: Frage der Gerichtszuständigkeit beim Anspruch aus Comfort Letter

BGH, Beschl. v. 15.06.2021 - II ZB 35/20, ZInsO 2021, 1728

(II. Senat = u.a. zuständig für Gesellschaftsrecht)

Aus der Begründung:

Rn. 20: Art. 1 Abs. 2 Buchst. b) EuGVVO grenzt aus dem Anwendungsbereich der EuGVVO Verfahren aus, die in den Anwendungsbereich der EuInsVO fallen. … Rn. 22: Nach Art. 6 Abs. 1 EuInsVO sind Gerichte eines Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Insolvenzverfahren nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO eröffnet wurde, nur für alle Klagen ausschließlich zuständig, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen (vgl. dazu die ständige Rspr. des EuGH, Urt. v. 20.12.2017 – C-649/16, …). Rn. 23: Eine Klage geht unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervor, wenn der der Klage zugrunde liegende Anspruch oder die ihr zugrunde liegende Verpflichtung nicht den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts, sondern den abweichenden Sonderregeln für Insolvenzverfahren entspringt. … Rn. 25: Die Rechtsgrundlage, auf die der Kläger seinen Zahlungsanspruch stützt, ist der Comfort Letter vom …, mit dem die Beklagte sich der Schuldnerin gegenüber rechtlich bindend verpflichtet haben soll, diese in die Lage zu versetzen, ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen. Klagen wegen der Erfüllung von Verpflichtungen aus einem Vertrag, der vom Schuldner vor Eröffnung des Verfahrens abgeschlossen wurde, gehen nach Erwägungsgrund 35 der EuInsVO nicht aus dem Insolvenzverfahren hervor. Um ein solches, den allgemeinen Regeln des Zivil- und Handelsrechts unterliegendes Rechtsgeschäft handelt es sich nach dem Klägervorbringen (…). … Rn. 71: Eine Vorlage an den EuGH zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht geboten. Die Auslegung von Art. 31 Abs. 2 EuGVVO ist derart offenkundig, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel besteht und der Senat mit dem High Court … überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde (…).                

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Zur vorstehender Entscheidung gibt es eine umfangreiche kritische Anmerkung von Fölsing in ZInsO 2021, 1728, 1734. Dort heißt es auszugsweise: „Seine (= BGH) Entscheidung gefährdet die Integrität von Insolvenzverfahren in Deutschland. … Bedenklich ist, dass der BGH als letztinstanzliches Gericht nicht einmal ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH … in Betracht zog.Seit der Entscheidung des EuGH zur Prüfungsklage v. 18.09.2019(= C-47/18) erscheint die Abgrenzung des Anwendungsbereichs der EuInsVO von dem Anwendungsbereich der EuGVVO … nicht mehr eindeutig. Nur der EuGH kann klarstellen, ob seine Entscheidung v. 18.09.2019 so zu verstehen ist, dass der prozessuale Rahmen des Insolvenzverfahrens bei der Abgrenzung von EuInsVO und EuGVVO nun doch von Bedeutung ist, oder nicht.“

 

Haftung

InsbürO 2021, 459: Zum Haftungsumfang eines Kommanditisten

BGH, Beschl. v. 29.04.2021 – IX ZR 154/20, ZInsO 2021, 1459

Aus der Begründung:

Rn. 10: Zutreffend geht … davon aus, dass der Kläger diese offene Haftung nach § 171 Abs. 2 HGB nur insoweit geltend machen kann, als die Inanspruchnahme des Beklagten zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger erforderlich ist, denen der Beklagte nach §§ 171, 172 HGB haftet (…). Dagegen kann der Beklagte entsprechend § 422 Abs. 1 Satz 1, § 362 Abs. 1 BGB einwenden, dass der zur Befriedigung dieser Gläubiger erforderliche Betrag bereits durch Zahlungen anderer Kommanditisten aufgebracht wurde (…). Die Darlegungs- und Beweislast hierfür hat der in Anspruch genommene Gesellschafter; jedoch hat der Insolvenzverwalter die für die Befriedigung der Gläubiger bedeutsamen Verhältnisse der Gesellschaft darzulegen, sofern nur er dazu im Stande ist (…). … Rn. 14: Ein Gesellschafter haftet gem. §§ 171, 172 Abs. 4, § 161 Abs. 2, § 128 HGB … auch für die Gewerbesteuerforderung, als sie auf der Hinzurechnung des Unterschiedsbetrags nach § 5a Abs. 4 EStG zum Gewinn der Schuldnerin beruht. Die insolvenzrechtliche Einordnung dieser Forderung als Masseverbindlichkeit i.S.v. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO steht dem nicht entgegen (…).

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Wir hatten die der Entscheidung zugrundeliegende Forderung des OLG Karlsruhe (Urt. v. 24.07.2020 – 1 U 75/19) ebenfalls veröffentlicht (InsbürO 2020, 497 = ZInsO 2020, 1999). Das OLG Karlsruhe hatte die Haftung eines Kommanditisten für Masseverbindlichkeiten abgelehnt und dabei auf die BGH-Rechtsprechung verwiesen. Jedoch erläutert der BGH nunmehr dazu, dass das zitierte Urteil (v. 24.09.2009 - IX ZR 234/07, Rn. 12 ff.) überholt sei. Diese Rechtsprechung habe der Senat mit Urteil vom 28.01.2021 (IX ZR 54/20, InsbürO 2021, 216 = ZInsO 2021, 516) aufgegeben.

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