11.05.2020

Rechtsprechungsüberblick

Verwertungstätigkeit

 

Keine Verweisung einer begehrten Entscheidung über Massebeschlag an das Prozessgericht

LG Hildesheim, Beschl. v. 11.11.2019 – 5 T 198/19 (rkr.)

Aus der Begründung:

Die Beschwerde ist unbegründet. … Das Insolvenzgericht ist für die Entscheidung über die Freigabe des Kfz des Schuldners nicht zuständig. Die Zuständigkeit für die Entscheidung, ob ein Gegenstand zur Insolvenzmasse gehört, obliegt dem Prozessgericht … (… BGH, ZInsO 2010, 188). … Das Insolvenzgericht hatte den Vorgang auch nicht an das zuständige Prozessgericht zu verweisen. Ein solcher Verweis kommt lediglich im Rahmen des § 281 Abs. 1 ZPO in Betracht. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Norm ist diese nur bei einer sachlichen oder örtlichen Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts einschlägig. Bei einer funktionellen Unzuständigkeit findet § 281 Abs. 1 ZPO keine Anwendung (BGH, … NJW 2003, 2686; …). Es besteht auch kein Raum für eine analoge Anwendung des § 281 Abs. 1 ZPO … So ergibt sich … keine Unklarheit der Zuständigkeitsfrage. 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Entscheidung betrifft einen klaren, aber doch immer wieder vorkommenden Sachverhalt. Der BGH hat zuletzt mit Beschluss vom 19.09.2019 (IX ZB 2/18 in ZInsO 2019, 2333) bestätigt, dass der Streit zwischen Insolvenzverwalter und Schuldner über die Massezugehörigkeit vor dem Prozessgericht auszutragen ist, wenn er keine Vollstreckungshandlung und keine Anordnung des Vollstreckungsgerichts betrifft. Diese ständige Rechtsprechung hatte auch Wipperfürth in InsbürO 2015, 515 näher erläutert. Interessant ist vorstehend, dass eine Verweisung an das eigentlich zuständige Gericht nicht zu erfolgen hat, wenn der Schuldner sich fälschlicherweise mit seinem Antrag an das Insolvenzgericht wendet. Diese Möglichkeit wurde bislang – soweit ersichtlich – nicht thematisiert. Die Rechtsbeschwerde wurde vom LG Hildesheim nicht zugelassen.

 

 

Vergütungsrecht

 

Bestimmung der Vergütung eines vorläufigen Insolvenzverwalters inkl. Zuschläge

BGH, Beschl. v. 12.09.2019 - IX ZB 65/18, ZInsO 2019, 2236

Amtliche Leitsätze:

  • Wird der vorläufige Insolvenzverwalter im Rahmen des ihm zustehenden Aufgabenkreises in erheblichem Umfang zur Vorbereitung einer Sanierung tätig, ist der damit verbundene Mehraufwand im Rahmen eines Zuschlags zu vergüten.
  • Der Tatrichter kann einen Mehraufwand für arbeitsrechtliche Sonderaufgaben und Insolvenzgeldvorfinanzierung im Rahmen der Bemessung des Zuschlags für die Unternehmensfortführung berücksichtigen.
  • Die Zahl der Arbeitnehmer eines schuldnerischen Unternehmens rechtfertigt für sich genommen keinen Zuschlag für arbeitsrechtliche Soderaufgaben.
  • Ein erheblicher Mehraufwand für die Insolvenzgeldvorfinanzierung kann sich aus den notwendigen Abläufen bei einer großen Zahl von Arbeitnehmern ergeben.
  • Ein erheblicher Mehraufwand des (vorläufigen) Insolvenzverwalters für arbeitsrechtliche Sonderaufgaben oder Insolvenzgeldvorfinanzierung wird regelmäßig nicht durch eine höhere Berechnungsgrundlage aufgefangen.

 

Aus der Begründung:

Rn. 17: Anders als die Rechtsbeschwerde meint, ist es nicht erforderlich, für sämtliche einen Mehr- oder Minderaufwand verursachenden Tätigkeiten des Insolvenzverwalters zunächst einzeln gesonderte Zu- und Abschläge festzusetzen. Eine solche Vorgehensweise wird in vielen Fällen schon deshalb unzweckmäßig sein, weil sich einzelne Zu- und Abschlagstatbestände in ihren Voraussetzungen häufig überschneiden (…). Entscheidend ist stets die Gesamtschau, bei welcher das Gericht unter Berücksichtigung von Überschneidungen und einer aufs Ganze bezogenen Angemessenheitsbetrachtung den Gesamtzuschlag oder den Gesamtabschlag festzulegen hat. … Dieser vorausgehen muss in jedem Fall eine genaue Überprüfung und Beurteilung aller in Frage kommenden Zu- und Abschlagstatbestände, insbesondere der vom (vorläufigen) Insolvenzverwalter beantragten Zuschläge (…). Eine schematische Festlegung rechnerischer Zu- und Abschläge für bestimmte Sachverhalte birgt die Gefahr, dass der insgesamt gewährte Zuschlag nicht die Gesamtlage berücksichtigt, sondern sich auf die Summe aus den einzelnen Zu- und Abschlägen beschränkt.

                     

Anwendung der Zu- und Abschläge beim vorläufigen Insolvenzverwalter

BGH, Beschl. v. 17.10.2019 - IX ZB 5/18 in ZInsO 2019, 2599

Aus der Begründung:

Rn. 9: Der Senat hat § 3 InsVV stets entsprechend auf den vorläufigen Insolvenzverwalter angewandt (…). Das entspricht der herrschenden Ansicht im Schrifttum (…). Rn. 10: Entgegen einer vereinzelt vertretenen Auffassunggilt § 3 InsVV für den vorläufigen Insolvenzverwalter auch weiterhin entsprechend (§ 10 InsVV), nachdem das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15.07.2013 (BGBl. I S. 2379) die Vorschriften des § 11 Abs. 1 Satz 1 bis 3 InsVV a.F. als § 63 Abs. 3 Satz 1 bis 3 in die InsO übernommen hat. Mit dieser Neuregelung wollte der Gesetzgeber eine Frage klären, welche die Berechnungsgrundlage betrifft (…). Ein Wille des Gesetzgebers, Zu- und Abschläge abweichend von der Rechtsprechung des BGHs und der herrschenden Lehre neu zu regeln, ist nicht erkennbar. … Rn. 15: Die Bemessung von Zu- und Abschlägen bei der Vergütung des Insolvenzverwalters ist grds. Aufgabe des Tatrichters. Es genügt, wenn der Tatrichter die möglichen Zu- und Abschlagstatbestände dem Grunde nach prüft und anschließend in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung von Überschneidungen und einer auf das Ganze bezogenen Angemessenheitsbetrachtung den Gesamtzuschlag oder Gesamtabschlag bestimmt (…). Für die Vergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters gilt nichts anderes (…). Der vorläufige Insolvenzverwalter hat wie der Insolvenzverwalter Anspruch, für seine Tätigkeit angemessen vergütet zu werden (§ 63 Abs. 1, Abs. 3 InsO). …                    

 

 

Europäisches / internationales Recht

 

Kein Wohnsitzerfordernis für die Einleitung eines Entschuldungsverfahrens

EuGH, Urt. v. 11.07.2019 – Rs. C-716/17, ZInsO 2019, 1662

Einer von zwei amtlichen Leitsätzen: 

Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer in der Regelung eines Mitgliedstaats vorgesehenen Gerichtsstandsregel entgegensteht, die – wie die im Ausgangsverfahren fragliche – die Bewilligung einer Entschuldung an die Voraussetzung knüpft, dass der Schuldner seinen Wohnsitz oder Aufenthaltsort in diesem Mitgliedstaat hat. 

Aus der Begründung:

Rn. 17: Nationale Bestimmungen, die einen Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen … Beeinträchtigungen dieser Freiheit dar, … (…). Rn. 18:Eine nationale Regelung …, die die Bewilligung einer Entschuldung an ein Wohnsitzerfordernis knüpft, ist geeignet, einen zahlungsunfähigen Arbeitnehmer davon abzuhalten, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen (…). Rn. 19: Deshalb stellt, …, die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung, soweit sie die Stellung eines Antrags auf Entschuldung an ein Wohnsitzerfordernis knüpft, eine grds. verbotene Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar. … Rn. 38: Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist ein im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufenes nationales Gericht als Organ eines Mitgliedstaats immer dann, wenn es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, verpflichtet, jede nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, die einer unionsrechtlichen Bestimmung, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht (…).

 

 

Allgemein

 

InsbürO 2020, 169 ff.: Zu den Rechtsfolgen einer Freigabeerklärung

LG Dresden, Urt. v. 21.07.2017 – 6 O 510/17

Leitsatz RA/FAInsR Tilo Kolb, Leipzig:

Das Surrogat eines freigegebenen Gegenstandes fällt nicht als Neuerwerb in die Insolvenzmasse. 

AnmerkungRA/FAInsR Tilo Kolb, Leipzig:

Das LG Dresden hat sich mit den Rechtsfolgen einer Freigabeerklärung beschäftigt. Diese Entscheidung ist insoweit bedeutsam, weil das rechtliche Schicksal des Surrogats eines freigegebenen Gegenstandes umstritten ist. Im zugrundeliegenden Sachverhalt hatte die Insolvenzverwalterin „die Kommanditanteile und alle damit verbundenen Rechte an den Beteiligungen“ aus der Insolvenzmasse freigegeben. Im Laufe des Insolvenzverfahrens hatte die Kommanditgesellschaft Zahlungen i.H.v. 38.280,00 EUR an die Schuldnerin geleistet. Diese Zahlungen wurden dem Pfändungsschutzkonto der Schuldnerin bei der Sparkasse gutgeschrieben. Die Insolvenzverwalterin stellte sich nach Zahlungseingang auf den Standpunkt, dass der Anspruch der Schuldnerin gegen die Sparkasse auf Auszahlung der 38.280,00 EUR als Neuerwerb in die Insolvenzmasse gefallen sei.

In solchen Fällen ist es seit der Reform des Insolvenzrechts und der damit verbundenen Einführung des Einbezugs des Neuerwerbs in die Insolvenzmasse umstritten, wie ein solcher Vorgang einzuordnen wäre. Der Neuerwerb nach § 35 Abs. 1 InsO umfasst das neu erworbene Nettovermögen des Schuldners nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens.  Im Wesentlichen ist es der Zweck dieser Regelung, als Kompensation zur Restschuldbefreiung und der Schuldenbereinigung zu fungieren. 

Zentrales Merkmal des Neuerwerbs ist, dass er den Vermögenszufluss nach der Insolvenzeröffnung umfasst, was auch das zentrale Merkmal des oben erwähnten Streits ist. Die Frage ist nun, wie der Vermögenszufluss durch die Freigabe zu bewerten ist. Denn eine Einordnung als Neuerwerb hätte zur Folge, dass die freigegebene Sache umgehend wieder in die Insolvenzmasse flösse. Begründet wird die Einordnung als Neuerwerb damit, dass der Vermögenswert dem Schuldnervermögen wirtschaftlich erneut zufließt und somit nach Eröffnung wie durch Rechtsgeschäft neu erworben wird.  

Dies ist aber als künstlich konstruiertes Auseinanderreißen der faktischen und rechtlichen Situation anzusehen, weswegen diese Ansicht abzulehnen ist. Auch wenn der Schuldner seine Verfügungsgewalt durch das Insolvenzverfahren verliert, ist er immer noch rechtlicher Eigentümer, weswegen die Freigabe nicht das Schuldnervermögen verändert, sondern nur den Umfang des Insolvenzbeschlags.  Das ist auch die Meinung des LG Dresden und weitet diesen Ansatz in seinem Urteil auch auf die Surrogate aus. 

Diese Ausweitung sollte aber kritisch gesehen werden, denn auch wenn sie konsequent ist, birgt sie für die Praxis der Insolvenzverwaltung erhebliche Risiken, da es hierdurch zu durchaus nicht unerheblichen Schmälerungen der Masse kommen kann. Da dies nach Ansicht des LG Dresden „alle damit verbundenen Rechte“ umfasst, kann dies bei konsequenter Anwendung sogar Vermögenzuflüsse umfassen, die eigentlich erst nach der Insolvenzeröffnung entstanden sind. Darunter fallen etwa Erlöse oder Früchte, die nunmehr mitübertragen und nicht mehr als Neuerwerb zu fassen sind. Hierzu muss erwähnt werden, dass der Umstand, dass im vorliegenden Fall die Freigabeerklärung „alle damit verbundenen Rechte“ umfasste, für die Praxis irrelevant sein sollte, da sie grds. vom Umfang der Freigabe umfasst sind.  Deshalb ist kritisch zu hinterfragen, ob der Standpunkt des LG Dresden der Praxis der Abwicklung von Insolvenzverfahren gerecht wird. Sinniger und praktisch angemessener erscheint es hier, dass man zwischen dem konkreten Gegenstand der Freigabe und den Surrogaten differenziert, zumindest insoweit, dass vorherige vermögensfremde Surrogate in den Neuerwerb aufgenommen werden. Es bleibt daher abzuwarten, inwieweit sich dies praktisch durchsetzen wird. 

Den Insolvenzverwaltern ist zu raten, dass sie bei der Freigabe aus dem Insolvenzbeschlag mit entsprechender Vorsicht agieren und zuvor auch die mit dem Gegenstand verbundenen Rechte umfassend prüfen sollten, da sonst wie im vorliegenden Fall die Gefahr besteht, dass der Masse die damit verbunden Rechte bzw. Surrogate entgehen.

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Ein Zusammenschluss von langjährig tätigen Insolvenzverwaltern und Restrukturierungsexperten.

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