22.11.2022

Aus der Rechtsprechung

Rechtsprechungsüberblick


Nachfolgende Texte wurden in ähnlicher Form in der InsbürO - einer Zeitschrift für die Insolvenzpraxis - veröffentlicht. Die Zeitschrift erscheint im Carl Heymanns Verlag, Wolters Kluwer Deutschland GmbH. Unsere Mitarbeiterin Michaela Heyn ist Schriftleiterin und Mitherausgeberin dieser Zeitschrift.
 

Novemberheft 2022
 

Eröffnungsverfahren

InsbürO 2022, 438 ff.: Deutsche Zuständigkeit auch bei Umzug nach Antragstellung ins europäische Ausland

BGH, Beschl. v. 07.07.2022 - IX ZB 14/21, ZInsO 2022, 2024

Leitsatz des Bearbeiters:

Stellt der Schuldner bei einem örtlich unzuständigen Insolvenzgericht einen Eröffnungsantrag und verzieht anschließend vor Verweisung an das zuständige Insolvenzgericht in einen anderen EU-Mitgliedstaat, bleiben die deutschen Gerichte für die Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig.


Anmerkung RA Kai Henning, Dortmund:

Die einschlägigen Normen wie auch § 335 InsO stellen bei der internationalen Zuständigkeit nach ihrem Wortlaut auf die Eröffnung des Verfahrens ab. Hieraus könnte geschlossen werden, dass noch nach Insolvenzantragstellung in dem einen Staat eine Wohn- oder Geschäftssitzverlegung in einen anderen Staat erfolgen könnte, um so die Eröffnung des Verfahrens in dem anderen Staat zu erreichen. Beispiel: Ein Gläubiger beantragt zu dem Vermögen einer in Wuppertal lebenden Schuldnerin die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens vor dem deutschen Insolvenzgericht. Die Schuldnerin verlegt sofort nach Zustellung des Insolvenzantrags ihren Wohnsitz nach Spanien, da sie das dortige Insolvenzverfahren für schuldnerfreundlicher hält. Diese Verlegung des Wohnsitzes nach Spanien lässt aber die Zuständigkeit des zuerst angerufenen deutschen Insolvenzgerichts nicht entfallen wie der BGH in der vorliegenden Entscheidung bestätigt.

Der Grundsatz des lex fori concursus gilt im Übrigen auch für die Abwicklung des Insolvenzverfahrens und insbesondere auch bei der Bestimmung der Pfändbarkeit des Einkommens des Schuldners. Beispiel: Über das Vermögen des Schuldners wird in Deutschland ein Insolvenzverfahren durchgeführt. Er bezieht eine deutsche Rente und eine ausländische Rente, die nach dem Recht des ausländischen Staates unpfändbar, nach deutschen Recht aber pfändbar ist. Im deutschen Insolvenzverfahren ist die Pfändbarkeit des Einkommens allein nach deutschen Recht zu bestimmen. Die ausländische Rente ist daher pfändbar. Von der Frage der Pfändbarkeit eines Vermögensgegenstandes ist die Frage des Eigentums des Schuldners an bestimmten Vermögensgegenständen zu unterscheiden. Der Insolvenzbeschlag eines deutschen Insolvenzverfahrens erfasst auch das ausländische Immobilieneigentum des Schuldners. Allerdings richtet es sich nach dem Recht des Staates, in dem das Grundstück belegen ist, ob der Schuldner überhaupt Eigentümer ist (vgl. BGH, Beschl. v. 20.07.2017 - IX ZB 69/16, InsbürO 2017, 475 = ZInsO 2017, 1858).

 

InsbürO 2022, 440 f.: Stundungsantrag trotz erlangter Erbschaft

LG Düsseldorf, Beschl. v. 24.02.2022 - 25 T 77/22, ZInsO 2022, 1918 (rkr.)

Amtlicher Leitsatz:

Kann die Schuldnerin den Verbleib eines nicht unerheblichen Erbes (ca. 120.000 €) nicht hinreichend nachvollziehbar belegen, so reicht allein die Bewilligung von ALG II als Indiz für das Vorliegen der Stundungsvoraussetzungen nicht aus.
 

Anmerkung RA Kai Henning, Dortmund:

Das Insolvenzgericht ist hier im Rahmen der beantragten Stundung tief in die Prüfung der Vermögensverhältnisse der Schuldnerin eingestiegen. Durch einen von der Schuldnerin vorgelegten Sozialhilfe-Bewilligungsbescheid hat es sich von dieser Prüfung und der Ablehnung der Stundung nicht abhalten lassen. Das Beschwerdegericht hat dieses Vorgehen bestätigt. Mit der Rechtsprechung des BGHs steht diese Entscheidung nicht in Einklang. Der 9. Zivilsenat (BGH, Beschl. v. 03.02.2005 - IX ZB 37/04, ZInsO 2005, 264) hat bspw. festgestellt: „Wenn aufgrund eines in sich stimmigen Stundungsantrags objektiv keine Zweifel bestehen, dass der Antragsteller voraussichtlich nicht in der Lage ist, die anfallenden Kosten zu decken, hat das Insolvenzgericht nicht zu prüfen, wie es dazu kommen konnte, dass der Schuldner derart verarmt ist. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte hat es außerdem davon auszugehen, dass der Schuldner redlich ist und seine Angaben wahrheitsgemäß und vollständig gemacht hat“.  Der BGH geht auch davon aus, dass im Stundungsverfahren keine komplizierten Prüfungen vorzunehmen sind und die Stundung nur zu verweigern ist, wenn sich die Gründe der Ablehnung der Stundung offensichtlich aus der Gerichtsakte ergeben (BGH, Beschl. v. 16.01.2014 - IX ZB 64/12, InsbürO 2014, 187 = ZInsO 2014, 450). Schließlich hat der BGH auch festgestellt, dass der Schuldner im Hinblick auf die Stundung der Verfahrenskosten keine vorherige Kapitalerhaltungspflicht hat (BGH, Beschl. v. 05.03.2009 - IX ZB 141/08, InsbürO 2009, 240 = ZInsO 2009, 732).

Soweit das Beschwerdegericht im Übrigen davon ausgeht, dass die Stundung abzulehnen ist, da nicht festgestellt werden kann, dass das Vermögen der Schuldnerin voraussichtlich zur Deckung der anfallenden Kosten nicht ausreichen wird, kann diese Feststellung nur die Konsequenz haben, das Verfahren wegen vorliegender Kostendeckung zu eröffnen. Sollte die Verfahrenseröffnung in diesem Verfahren allerdings ebenfalls abgelehnt worden sein, kann die betroffene Schuldnerin jederzeit erneut einen Insolvenzantrag stellen. Bei dieser erneuten Antragstellung ist die Stundung der Verfahrenskosten wiederum zu prüfen und kann nicht mit der Begründung abgelehnt werden, im Vorverfahren sei die Stundung wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht abgelehnt worden (vgl. BGH, Beschl. v. 04.05.2017 - IX ZB 92/16, InsbürO 2017, 335 = ZInsO 2014, 1444).

 

Unternehmensinsolvenzen

InsbürO 2022, 443: Zur Kosteninanspruchnahme für Gefahrenabwehr aus Zwischenlager bei eingestelltem Geschäftsbetrieb

OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 21.06.2022 - 5 LA 263/19, ZInsO 2022, 1616 (unanfechtbar)

Einer von zwei Leitsätzen des Gerichts:

Der Insolvenzverwalter rückt in die Betreiberstellung ein, wenn er die Anlage kraft eigenen Rechts und im eigenen Namen fortführt, nicht indes, wenn der Betrieb schon vor der Insolvenzeröffnung eingestellt war.


Aus der Begründung:

Nach § 20 Abs. 2 Satz 1 BImSchG soll die zuständige Behörde anordnen, dass eine Anlage, die ohne die erforderliche Genehmigung errichtet, betrieben oder wesentlich geändert wird, stillzulegen oder zu beseitigen ist. … Anlagenbetreiber ist diejenige natürliche oder juristische Person oder Personenvereinigung, die die Anlage in ihrem Namen, auf ihre Rechnung und in eigener Verantwortung führt. Die Eigentümerstellung ist nicht entscheidend; auch der Pächter einer Anlage kann Betreiber sein. Maßgeblich kommt es darauf an, wer unter Berücksichtigung sämtlicher konkreter, rechtlicher, wirtschaftlicher und tatsächlicher Gegebenheiten bestimmenden Einfluss auf die Einrichtung, Beschaffenheit und den Betrieb der Anlage ausübt (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.11.2018 – 7 C 7.17, Rn. 30). Betreiber des Abfallzwischenlagers war bis zum 30.06.2014 die E OHG, die mit Unternehmenspachtvertrag … gepachtet hat und deren persönlich haftende Gesellschafter (vgl. § 128 Satz 1 HGB) der Kläger und Herr … sind. … Die E OHG trifft nach Beendigung des Unternehmenspachtvertrags und Einstellung des Betriebs … die Nachsorgepflicht aus § 5 Abs. 3 BImSchG. … Der Kläger trägt vor, der Beklagte habe ermessensfehlerhaft lediglich ihn in Anspruch genommen, nicht aber den Mitgesellschafter …, etwaige Verbindlichkeiten der E OHG könnten wegen § 93 InsO durch Dritte nicht gegen die Gesellschafter geltend gemacht werden, … über sein Vermögen sei ein Insolvenzverfahren eröffnet worden. Ihm stünden daher keinerlei finanzielle Mittel zur Verfügung, eine Entsorgung zu beauftragen. … Die behauptete Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Klägers steht seiner Inanspruchnahme nicht entgegen

 

Einkommen

InsbürO 2022, 443: Pfändungsschutz für Mehrarbeitsstunden erst bei Überschreiten der Wochenarbeitszeit

LG Wuppertal, Beschl. v. 22.12.2021 – 16 T 188/21, ZInsO 2022, 2144

Aus der Begründung:

Zu Recht hat das AG … gem. § 36 InsO i.V.m. § 850e Nr. 2 ZPO eine Zusammenrechnung der von den genannten Drittschuldnern gezahlten monatlichen (Netto-)Arbeitseinkommen bzw. gleichgestellten Einkunftsarten angeordnet. … Eine Mehrarbeitszeit i.S.d. § 850a Nr. 1 ZPO liegt aber deshalb nicht vor, weil der Schuldner die Nebentätigkeit bei dem Drittschuldner zu 2 nicht außerhalb der üblichen Vollbeschäftigungszeit erbringt. Zwar übt der Schuldner nach dem mit der Drittschuldnerin zu 1 geschlossenen Arbeitsvertrag bei dieser eine Vollzeitbeschäftigung aus. Jedoch beträgt die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit bei der Drittschuldnerin zu 1 nach den tarifvertraglichen Regelungen lediglich 35 Stunden und liegt mithin unterhalb der allgemein üblichen Wochenarbeitszeit von 40 Stunden. Mehrarbeit i.S.d. § 850a Nr. 1 ZPO liegt hingegen nur dann vor, wenn der Schuldner über den üblichen Umfang hinaus Arbeitszeit erbringt. Maßstab ist - sofern es sich um Mehrarbeit bei demselben Arbeitgeber handelt - die normale Arbeitszeit des Betriebes, anderenfalls - wenn es sich um eine Nebentätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber handelt - die allgemein übliche Wochenarbeitszeit.
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Insolvenzbüros haben bei einer Nebentätigkeit des Schuldners vor dem Hintergrund eines möglichen Zusammenrechnungsantrages nach § 850e Nr. 2 ZPO stets zu prüfen, ob dieser damit eine überobligatorische Mehrarbeit leistet, weil sich dieser bereits in einem Vollzeit-Arbeitsverhältnis befindet oder diese Tätigkeit neben einer Teilzeitstelle ausgeübt wird. Der Schuldner ist nämlich zur Erfüllung der Erwerbsobliegenheit (§§ 290 Abs. 1 Nr. 7, 295 Nr. 1 InsO) verpflichtet, eine Vollzeitstelle auszuüben oder sich um eine solche zu bemühen (BGH, Beschl. v. 01.03.2018 - IX ZB 32/17 m.w.N., InsbürO 2018, 194 = ZInsO 2018, 727). Der Pfändungsschutz nach § 850a Nr. 1 ZPO greift nämlich nur bei anerkannter Mehrarbeit. Das LG Wuppertal nennt insoweit noch einmal einen interessanten Aspekt und unterscheidet hinsichtlich des Umfangs der Wochenarbeitszeit zwischen einer Nebentätigkeit beim selben Arbeitgeber, die tariflich bei bspw. 35 Stunden liegen kann, und bei zwei unterschiedlichen Arbeitgebern, weil dann die allgemein übliche höhere Wochenarbeitszeit von 40 Stunden anzusetzen ist. Legt man diese Betrachtung zugrunde, kann dies für die Entstehung von (höheren) pfändbaren Einkommensanteilen zugunsten der Insolvenzmasse entscheidend sein und ggf. die Rechtsgrundlage für einen Zusammenrechnungsantrag ermöglichen. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen.

 

Anfechtungsrecht

InsbürO 2022, 443 f.: Kein Anfechtungsschutz für gesetzlichen Mindestlohn

BAG, Urt. v. 25.05.2022 - 6 AZR 497/21, ZInsO 2022, 1930

(6. Senat = u.a. zuständig für insolvenzrechtliche Fragen)

Amtlicher Leitsatz:

Die Insolvenzanfechtung von Arbeitsentgelt umfasst auch den auf den gesetzlichen Mindestlohn entfallenden Bestandteil.
 

Aus der Begründung:

Rn. 42: … Der Gesetzgeber hat weder in der Insolvenzordnung noch im Mindestlohngesetz eine anderweitige Regelung bzgl. der Anfechtbarkeit des Mindestlohns getroffen … Der Mindestlohn hat auch im Zwangsvollstreckungsrecht keinen besonderen Schutz erfahren. Hieraus folgt, dass die Insolvenzanfechtung nach dem Willen des Gesetzgebers bezogen auf den Mindestlohn keinen Einschränkungen unterliegt (…). Rn. 43: …Der Gesetzgeber hat sich bzgl. der ursprünglichen Höhe des Mindestlohns nur an der Pfändungsfreigrenze für einen alleinstehenden Vollzeitbeschäftigten bei durchschnittlicher Wochenarbeitszeit orientiert und wollte diese übertreffen (vgl. BT-Drs. 18/1558 S. 28). Das Mindestlohngesetz soll daher nicht umfassend die gesamte Existenz des Arbeitnehmers auf Dauer absichern, sondern nur die Mindesthöhe des Entgelts bestimmen. Dies dient letztlich zwar auch der Existenzsicherung, beinhaltet aber keine Sicherung gegen eine Insolvenzanfechtung, deren Folgen durch den Vollstreckungsschutz und sozialrechtliche Ansprüche abgemildert werden.
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Wir hatten die Entscheidung der ersten Instanz in der InsbürO veröffentlicht: ArbG Gießen, Urt. v. 13.04.2021 – 5 Ca 188/20, InsbürO 2021, 499. Dieses hatte die Anfechtung des gesetzlichen Mindestlohns abgelehnt. Die Berufungsinstanz (LAG Hessen, Urt. v. 19.10.2021 – 12 Sa 587/21) hatte dies bestätigt, die Revision aber zugelassen, über die nunmehr wie vorstehend entschieden wurde.

 

InsbürO 2022, 444: Zur Anwendbarkeit von § 2 Abs. 1 Nr. 5 COVInsAG

LG Hamburg, Urt. v. 13.06.2022 – 303 O 149/21, ZInsO 2022, 1794

Aus der Begründung:

Die Zahlungen sind … anfechtbar. Entgegen der Auffassung der Beklagten steht § 2 Abs. 1 Nr. 5 COVInsAG der Anfechtung dieser Zahlungen nicht entgegen, da diese die Anfechtung ausschließende Vorschrift auf die hier nach Antragstellung erfolgten Zahlungen keine Anwendung findet. … Sobald … die Verhinderung eines Insolvenzverfahrens nicht mehr erreichbar ist, kann § 2 Abs. 1 Nr. 5 COVInsAG so nicht mehr anwendbar sein. So bringen auch § 1 Abs. 1 Satz 2, 2. Alt. COVInsAG sowie § 1 Abs. 3 Satz 3, 2. Alt. COVInsAG klar zum Ausdruck, dass das COVInsAG in seiner Gesamtheit nur dann anwendbar sein soll, wenn noch die Möglichkeit besteht, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu verhindern.
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Entscheidung schließt sich der bisherigen Rechtsprechung zu dieser Thematik an: Wurde ein Eigenantrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt, greift der Anfechtungsausschluss des COVInsAG nicht mehr durch; s. dazu zuletzt: OLG Hamburg, Beschl. v. 30.04.2022 - 11 U 169/21, InsbürO 2022, 371. Zum Zeitpunkt der Druckfreigabe dieser Ausgabe ist beim BGH eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des OLG Hamburg unter dem AZ: IX ZR 108/22 anhängig.

 

InsbürO 2022, 444: Gleichstellung bei der Anfechtung nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO von Darlehen bei vertikaler oder horizontaler Beteiligung und zur Nichtanwendung des COVInsAG

OLG Düsseldorf, Hinweisbeschluss v. 23.05.2022 – I-12 U 42/21, ZInsO 2022, 1572

Aus der Begründung:

Nach dem Ergebnis der Vorberatung hat die zulässige Berufung der Beklagten keine Aussicht auf Erfolg. … Das LG hat zu Recht und mit zutreffender Begründung das Versäumnisurteil aufrechterhalten, mit dem die Beklagte zur Rückgewähr … von insgesamt 163.000 € gem. §§ 143, 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO verurteilt worden ist, … Zu den gleichgestellten Forderungen gehören … nach ständiger Rechtsprechung des BGH grds. auch Darlehensforderungen von Unternehmen, die mit dem Gesellschafter horizontal oder vertikal verbunden sind (BGH, Urt. v. 25.06.2020 – IX ZR 243/18, … Rn. 22 m.w.N.). Die Verbindung kann – vertikal – in der Weise bestehen, dass der Dritte an einer Gesellschafterin der Schuldnergesellschaft beteiligt ist, oder – horizontal – in der Weise ausgestaltet sein, dass ein Gesellschafter an beiden Gesellschaften, der Darlehen nehmenden und der Darlehen gebenden Gesellschaft, und zwar an der letztgenannten maßgeblich beteiligt ist (BGH, Urt. v. 25.06.2020 – IX ZR 243/18, … 22 m.w.N.). … Ist ein Gesellschafter sowohl an der darlehensnehmenden als auch der darlehensgebenden Gesellschaft beteiligt, unterliegt die Darlehensgeberin der Regelung des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, wenn der Gesellschafter kraft einer Mehrheitsbeteiligung auf die Entscheidungen des hilfeleistenden Unternehmens, nämlich auf die Gewährung oder auf den Abzug der Leistung an das andere Unternehmen, einen bestimmenden Einfluss ausüben kann (BGH, Urt. v. 25.06.2020 – IX ZR 243/18, … Rn. 22 m.w.N.). … Ein solcher Fall der horizontalen Verbindung liegt hier vor, …

Entgegen der Auffassung der Beklagten fehlt es an einer Gläubigerbenachteiligung nicht im Hinblick auf die Regelung in § 2 Abs. 1 Nr. 2 COVInsAG. Das LG ist vielmehr zutreffend davon ausgegangen, dass sich die Beklagte nicht auf die Privilegierung berufen kann, weil die Schuldnerin nach dem nicht hinreichend bestrittenen Vortrag des Klägers bereits zum 31.12.2019 zahlungsunfähig war. … Schließlich bestanden zum 31.12.2019 fällige Verbindlichkeiten im Umfang von rd. 574.000 €, die bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr beglichen worden sind. Danach hatte die Schuldnerin ihre Zahlungen bereits zum 31.12.2019 eingestellt (vgl. BGH, Beschl. v. 15.11.2018 – IX ZR 81/18, … Rn. 5), weshalb ihre Zahlungsunfähigkeit gesetzlich vermutet wird (§ 17 Abs. 2 Satz 2 InsO).

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Berufung wurde nach dem Hinweisbeschluss zurückgenommen.

 

InsbürO 2022, 445: Zur Anfechtung von Zahlungen nach Sanierungskonzept

BGH, Urt. v. 23.06.2022 - IX ZR 75/21, ZInsO 2022, 1734

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)

Amtliche Leitsätze:

  1. Erhält der Gläubiger Zahlungen auf der Grundlage eines schlüssigen Sanierungskonzepts, genügt es zur Widerlegung der Vermutung der Kenntnis des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners, wenn der Anfechtungsgegner konkrete Umstände darlegt und beweist, die es naheliegend erscheinen lassen, dass ihm dieser im Hinblick auf den Sanierungsversuch unbekannt geblieben ist.
     
  2. Der Anfechtungsgegner darf grds. auf schlüssige Angaben des Schuldners oder des von ihm beauftragten Sanierungsberaters zum Sanierungskonzept vertrauen. Er ist nicht verpflichtet, die laufende Umsetzung des Konzepts zu überprüfen. Der Vertrauensschutz entfällt nur, wenn er erhebliche Anhaltspunkte dafür hat, dass er getäuscht werden soll oder dass das Sanierungskonzept keine Aussicht auf Erfolg hat oder gescheitert ist.

 

InsbürO 2022, 445: Anfechtbare Dividendenzahlungen bei nichtigem Gewinnverwendungsbeschluss von ausschüttender AG

OLG Frankfurt/M., Urt. v. 25.05.2022 – 4 U 310/19, ZInsO 2022, 1800 (n. rkr.)

Auszug aus dem Leitsatz des Gerichts:

Der Insolvenzverwalter kann Dividendenzahlungen an Aktionäre nach rechtskräftiger Nichtigerklärung des der Auszahlung zugrunde liegenden Gewinnverwendungsbeschlusses nach § 134 InsO anfechten.


Aus der Begründung:

Die Auszahlungen stellen … eine unentgeltliche Leistung i.S.v. § 134 Abs. 1 InsO dar. … Durch die Nichtigerklärung wurde der Dividendenanspruch rückwirkend vernichtet (…), so dass der Beklagte die Dividenden ohne Rechtsgrund erhalten hat. …  Der Anfechtung der Dividendenzahlungen nach § 134 InsO steht auch nicht die Vorschrift des § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG entgegen. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Vorschriften ist umstritten. … Allerdings ist darüber hinaus zu beachten, dass Aktionäre als Gesellschafter Eigenkapitalgeber sind, deren finanzielle Interessen in der Insolvenz grds. hinter den Interessen der Gläubiger zurücktreten müssen (…). Gerät eine Aktiengesellschaft in Insolvenz, können aus der Kapitalbeteiligung fließende Ansprüche ihrer Aktionäre regelmäßig erst im Rahmen der Schlussverteilung nach § 199 InsO Berücksichtigung finden. Allein der Umstand, dass die Insolvenzschuldnerin zum Zeitpunkt der Dividendenzahlungen noch über hinreichende Liquidität verfügte, um die Ausschüttungen tätigen zu können, rechtfertigt kein Behaltendürfen zu Unrecht ausgezahlter Scheingewinne zu Lasten der Insolvenzgläubiger.
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Revision wurde wegen grds. Bedeutung zugelassen, denn die entscheidungserhebliche Frage, ob rechtsgrundlos geleistete Dividendenzahlungen im Insolvenzfall auch von gutgläubigen Aktionären nach den Grundsätzen der Insolvenzanfechtung zurückgefordert werden können, oder ob die Vorschrift des § 62 Abs. 1 Satz 2 AktG dem insolvenzrechtlichen Gläubigerschutz vorgeht, sei höchstrichterlich noch nicht entschieden und habe über den Einzelfall hinaus Bedeutung. Diese wurde auch eingelegt. Sie ist zum Zeitpunkt der Druckfreigabe beim BGH unter dem AZ: IX ZR 121/22 anhängig.

 

Steuerrecht

InsbürO 2022, 445: Erlass eines Steuerbescheides bei Erstattungsbetrag auch nach Insolvenzeröffnung wirksam

BFH, Urt. v. 05.04.2022 - IX R 27/18, WKRS 2022, 28686

(IX. Senat = u.a. zuständig für Vermietung und Verpachtung, private Veräußerungsgeschäfte)

Einer von zwei amtlichen Leitsätzen:

Steuerbescheide, mit denen eine positive Steuer festgesetzt wird, können ausnahmsweise auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirksam ergehen, wenn sich unter Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen insgesamt ein Erstattungsbetrag ergibt und auch keine Besteuerungsgrundlagen festgestellt werden, die die Höhe von Steuerforderungen beeinflussen, welche zur Tabelle anzumelden sind.
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Wir hatten zu dieser Thematik den Beschluss v. 30.06.2020 (IX R 27/18, InsbürO 2021, 134) veröffentlicht, mit dem der BFH das Bundesministerium der Finanzen zum Beitritt zu dem Verfahren aufgefordert hatte (§ 122 Abs. 2 Satz 1 FGO), weil der vorstehend nun geklärte Sachverhalt damals offene Fragen ergab, so u.a., ob Steuerbescheide ergehen dürfen, durch die eine positive Steuer festgesetzt wird und bei denen sich eine Steuererstattung nur unter Berücksichtigung von Anrechnungsbeträgen ergäbe.
 

InsbürO 2022, 445 f.: Vorsteuererstattungsanspruch aus Kosten für einen sachverständigen Dritten als Kassenprüfer

BFH, Urt. v. 21.04.2022 - V R 18/19, ZInsO 2022, 1919

(V. Senat = u.a. zuständig für Umsatzsteuer)         

Amtliche Leitsätze:

  1. Von einer unmittelbaren Auftragserteilung durch die Insolvenzmasse ist jedenfalls dann auszugehen, wenn der Insolvenzverwalter in die Beauftragung eines Kassenprüfers eingebunden ist, indem er dem Gläubigerausschuss den Prüfer vorschlägt und dem Prüfer den Beschluss des Gläubigerausschusses über dessen Beauftragung übermittelt.
     
  2. Wird ein sachverständiger Dritter durch den Insolvenzverwalter mit der Prüfung beauftragt, sind die Kosten der Prüfung Masseverbindlichkeiten, da sie i.S.d. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO durch die Verwaltung der Masse verursacht werden.
     

Aus der Begründung:

Rn. 9: Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass sich der umsatzsteuerrechtliche Leistungsaustausch unmittelbar zwischen dem Kassenprüfer X und der durch den Insolvenzverwalter vertretenen Insolvenzmasse vollzogen hat, sodass dieser der Vorsteuerabzug aus den Prüfungsleistungen zusteht. … Rn. 19: Zudem kann nach der Interessenlage den Mitgliedern des Gläubigerausschusses nicht zugemutet werden, die Kassenprüfung im eigenen Namen und auf eigene Rechnung zu vergeben. Deshalb ist auch der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass mit den Kosten der Prüfung durch einen sachverständigen Dritten die Masse belastet wird (BT-Drucks. 12/2443, S. 132).

 

InsbürO 2022, 446: Zum anteiligen Vorsteuer-Erstattungsanspruch aus der Verwaltervergütung bei Betriebsfortführung und steuerfreien Umsätzen

FG Münster, Urt. v. 20.01.2022 – 5 K 1179/19 U, WKRS 2022, 11040 (n. rkr)

Zur Rechtsansicht des Klägers:

Im Fall des Klägers und der Schuldnerin sei zwar von Anfang an beabsichtigt gewesen, den Geschäftsbetrieb der Schuldnerin im Laufe des Insolvenzverfahrens zu schließen. Allerdings habe der Kläger - anders als im Urteilsfall des BFH vom 02.12.2015 (V R 15/15) - das Unternehmen der Schuldnerin während des Insolvenzverfahrens fortgeführt, um die vorhandenen Bauvorhaben abzuwickeln. Über die Frage, wie über den Vorsteuerabzug aus einer Rechnung des Insolvenzverwalters im Fall der Fortführung des Unternehmens des Insolvenzschuldners durch den Insolvenzverwalters zu entscheiden sei, habe der BFH in seinem Urteil vom 02.12.2015 (V R 15/15) ausdrücklich nicht entschieden.
 

Aus der Begründung:

Der Vorsteuerbetrag ist … nach § 15 Abs. 4 UStG anteilig zu versagen, da die Leistung des Klägers anteilig für steuerfreie Ausgangsumsätze verwendet worden ist. Die angemeldeten Forderungen, zu denen die Leistung des Klägers in einem direkten und unmittelbaren Zusammenhang steht (…), sind zumindest anteilig mit steuerbefreiten Tätigkeiten der Schuldnerin entstanden.


Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Die Revision wurde zur Fortbildung des Rechts hinsichtlich des Vorliegens und der Behandlung von durch den Insolvenzverwalter bewirkten Verwertungsumsätzen zugelassen. Es sei insbesondere höchstrichterlich bislang nicht geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Fortführung des Unternehmens des Insolvenzschuldners durch den Insolvenzverwalter anzunehmen ist. Höchstrichterlich ist außerdem – soweit hier bekannt ist – noch nicht entschieden, ob die vom BFH für die Aufteilung des Vorsteuerabzugs aus der Insolvenzverwalterrechnung bei unternehmerisch und privat veranlassten Verbindlichkeiten des Insolvenzschuldners entwickelten Grundsätze auch entsprechend für zur Tabelle angemeldete Verbindlichkeiten anzuwenden sind, die ihren Veranlassungszusammenhang in steuerpflichtigen und steuerfreien Umsätzen des Insolvenzschuldners haben. Die Revision wurde auch eingelegt. Das Verfahren ist zum Zeitpunkt der Druckfreigabe beim BFH unter dem AZ: XI 8 /22 anhängig.

 

InsbürO 2022, 446: Persönliche Haftung des Schuldners für offene Umsatzsteuerbeträge aus dem eröffneten Verfahren

FG Düsseldorf, Urt. v. 13.07.2022 – 4 K 1280/21 AO, ZInsO 2022, 1864 (n. rkr.)

Zum Sachverhalt:

Der Insolvenzverwalter führte das Unternehmen des Klägers nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fort. Das beklagte Finanzamt sah die auf Grund dessen entstandene Umsatzsteuer als Masseverbindlichkeit an und machte sie gegen den Schuldner nach Verfahrensbeendigung geltend. Das beklagte Finanzamt vertritt die Auffassung, dass die Restschuldbefreiung nicht für die vom Insolvenzverwalter begründeten Masseverbindlichkeiten wirken könne.
 

Aus der Begründung:

Nach der Rechtsprechung des BFH kann aus § 80 Abs. 1 InsO … keine Beschränkung der Haftung des Insolvenzschuldners in Bezug auf Einkommensteuerschulden für die Zeit nach der Beendigung eines Insolvenzverfahrens hergeleitet werden (BFH, Urt. v. 28.11.2017 - VII R 1/16, …). Der Steuerpflichtige ist als Subjekt der Einkommensteuer (§ 1 EStG) grds. zugleich auch Steuerschuldner. … Nach Auffassung des Senats ist diese Rechtsprechung des BFH auf den Streitfall zu übertragen. Die Rechtsprechung des BFH wird überwiegend so verstanden, dass sie allgemein für Steuerschulden gilt, … Der Senat vermag keine entscheidungserheblichen Unterschiede zwischen Einkommensteuer- und Umsatzsteuerschulden zu erkennen. … Vielmehr ist in dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt die Einkommensteuer auf Grund der Verwertung von Insolvenzmasse durch den Insolvenzverwalter entstanden.
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Der Senat hat die Revision zugelassen. Sie wurde auch eingelegt und wird beim BFH unter dem AZ: XI 23/22 geführt.

 

Vertragsverhältnisse

InsbürO 2022, 446: Wiederaufleben von Zahlungsansprüchen der Schuldnerin nach Rückbuchung von Lastschriften aufgrund Gläubigerbegehren

BGH, Urt. v. 12.05.2022 – IX ZR 71/21, ZInsO 2022, 1454

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)

Aus der Begründung:

Rn. 3: Die Schuldnerin stellte … einen Insolvenzantrag. … Als die Beklagte hiervon erfuhr, verlangte sie … gegenüber der Bank die Erstattung der … erfolgten Lastschrifteinzüge für die von der Schuldnerin … erteilten Rechnungen. Die Bank schrieb dem Konto der Beklagten 135.450,40 € wieder gut. Die Sparkasse belastete ihrerseits aufgrund des Erstattungsverlangens das bei ihr geführte Konto der Schuldnerin mit diesen Beträgen. Dieses Konto der Schuldnerin war bereits zum Zeitpunkt des Erstattungsverlangens debitorisch geführt worden und wurde auch danach nicht mehr kreditorisch geführt. … Rn. 5: Mit der Begründung, die unberechtigten Erstattungsverlangen stellten eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung dar, erhob die Sparkasse gegen die Beklagte Klage auf Zahlung von 135.450,40 €. Der Rechtsstreit endete mit einem Vergleich, wonach die Beklagte 100.913,11 € an die Sparkasse zahlte. An diesem Vergleich war der Kläger nicht beteiligt. … Rn. 13: Dem Kläger steht ein Anspruch auf Kaufpreiszahlung (§ 433 Abs. 2 BGB i.V.m. § 80 Abs. 1 InsO) in der zuletzt noch beanspruchten Höhe von 142.579,37 € zu. … Rn. 18: Die Erfüllungswirkung der Bezahlung durch den Lastschrifteinzug ist aufgrund des Erstattungsverlangens der Beklagten entfallen. Es ist in der Rechtsprechung des BGH für das SEPA-Basislastschriftverfahren geklärt, dass der Gläubiger seinen Zahlungsschuldner auf Erfüllung der ursprünglichen Forderung in Anspruch nehmen kann, wenn es aufgrund eines Erstattungsverlangens des Zahlungsschuldners zu einer Rückbelastung kommt. … Rn. 36: Die Beklagte kann dem Anspruch des Klägers nicht entgegenhalten, dass sie an die Sparkasse wegen des unberechtigten Erstattungsverlangens bereits Schadensersatz geleistet hat. Der zwischen der Beklagten und der Sparkasse geschlossene Vergleich betrifft eigene Ansprüche der Sparkasse, insbesondere aus § 826 BGB.

 

Vollstreckungsrecht

InsbürO 2022, 441 f.: Pfändbarkeit der Energiepreispauschale

AG Norderstedt, Beschl. v. 15.09.2022 - 66 IN 90/19, WKRS 2022, 31755

Amtlicher Leitsatz:

Die Energiepreispauschale gem. §§ 112 ff. EStG ist pfändbar und unterfällt insbesondere dem Insolvenzbeschlag.


Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Soweit ersichtlich ist dies die erste Entscheidung zu der wichtigen Thematik, ob die Energiepreispauschale pfändbar ist oder nicht. Das AG Norderstedt hält die Energiepreispauschale für pfändbar ist und hat – wie oben trotz nicht vollständiger Wiedergabe dennoch deutlich wird – sämtliche offensichtlichen Vorschriften für einen möglichen Pfändungsschutz geprüft. Das Ergebnis mag dem Gerechtigkeitsempfinden widersprechen, weil die Energiepreispauschale nach der Berichterstattung in den Medien den Bürgern zugutekommen soll und dieser Zweck bei einer Pfändung dann nicht mehr gegeben zu sein scheint. Aber denkt man dies weiter – und dies spricht das AG Norderstedt am Ende auch an – sind bei einem Antrag bspw. nach § 765a ZPO auch die Gläubigerbelange zu betrachten und da auch die Gläubiger unter den gestiegenen Energiekosten leiden, ist der Zweck der Energiepreispauschale dann indirekt vielleicht wieder erfüllt. Da der Gesetzgeber keine klare Regelung zur (Un-)Pfändbarkeit der Energiepreispauschale getroffen hat, überrascht das Ergebnis des AG Norderstedt jedenfalls nicht.

 

InsbürO 2022, 411: Rechte des Insolvenzverwalters aus dem Eröffnungsbeschluss

BGH, Beschl. v. 21.07.2022 - IX ZB 63/21, ZInsO 2022, 1858

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)

Amtlicher Leitsatz:

Der Insolvenzverwalter kann auf Grund einer vollstreckbaren Ausfertigung des Eröffnungsbeschlusses keine Geldforderungen des Schuldners gegen Drittschuldner pfänden und sich zur Einziehung überweisen lassen.
 

Aus der Begründung:

§ 148 Abs. 2 InsO beruht darauf, dass eine nicht gestattete Besitzentziehung gem. § 858 BGB eine verbotene Eigenmacht darstellt und der Insolvenzverwalter deshalb einer besonderen Grundlage bedarf, um eine Herausgabe der sich im Gewahrsam des Schuldners befindlichen Sachen erzwingen zu können (…). Die Regelung bezieht sich daher auf die Inbesitznahme des zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens. Die Lage bei Zwangsvollstreckungsmaßnahmen wegen (bestimmter) Geldforderungen in das bewegliche Vermögen ist damit nicht vergleichbar; sie werden von § 148 Abs. 2 InsO nicht erfasst. … Hingegen ergibt sich aus der InsO keine Grundlage dafür, dass der Insolvenzverwalter von jedem Dritten, dem gegenüber er zur Insolvenzmasse gehörende Ansprüche des Schuldners behauptet, eine Drittschuldnererklärung nach § 840 ZPO verlangen kann.


Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Dieser zugrundeliegende Sachverhalt und die Auswirkungen auf die Insolvenzpraxis werden in der Rubrik „Fragezeichen“ der InsbürO in diesem Heft (10/2022 - InsbürO 2022, 398 ff.) näher erörtert.

 

Haftung

InsbürO 2022, 447: Zurechnung der Kenntnis des Schuldners beim Insolvenzverwalter von Umständen für Verjährungsbeginn

BGH, Urt. v. 07.04.2022 - IX ZR 107/20, ZInsO 2022, 1243

(IX. Senat = u.a. zuständig für Insolvenzrecht)

Aus der Begründung:

Der Insolvenzverwalter hat sich die bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlangte Kenntnis des Insolvenzschuldners von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Drittschuldners zurechnen zu lassen, weil die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ansonsten zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Neubeginn der Verjährung führen würde (…).
 

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Es gibt zu dieser Entscheidung eine umfassende Stellungnahme von Hageböke in ZInsO 2022, 1243, 1245. Darin heißt es auszugsweise: „Der Schuldner würde unbillig benachteiligt werden, wenn durch die Insolvenz des Gläubigers die Verjährung erneut beginnen würde. Dies gilt auch dann, wenn … der nicht vorbefasste Insolvenzverwalter erst kurz vor Verjährungsbeginn vom Insolvenzgericht bestellt wird. Dies darf nicht zulasten des Schuldners des Anspruchs gehen. Ebenso wenig darf dies aber auch zulasten der im Insolvenzverfahren in den Vordergrund tretenden Gläubiger gehen. Verjährt der Anspruch, stellt sich die Frage, wer für den für die Gläubiger eintretenden Schaden haftet – dies setzt freilich die Verjährungseinrede des Schuldners voraus.“

 

InsbürO 2022, 447: Keine Geltendmachung Schaden nach § 92 InsO d. Einzelgläubiger auch bei Deliktanspruch

BGH, Urt. v. 19.05.2022 – III ZR 326/20, ZInsO 2022, 1672

(III. Senat = u. a. zuständig für Staatshaftungsrecht)

Aus der Begründung:

Rn. 10: … Ein Gesamtschaden tritt auch durch eine deliktische Verschiebung des zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens ein (BGH, …). … Rn. 11: … Während …, handelt es sich bei dem vom Berufungsgericht angenommenen Begünstigungsschaden um einen Gesamtschaden. Denn die dem Beklagten vorgeworfene Verschiebung von Vermögenswerten erst nach Begehung der den Kläger individuell schädigenden Betrugstat hat diesen nur wie jeden anderen Anleger getroffen. … Rn. 12: Der von der G P AG auf die M AG verschobene Geldbetrag hat die zur Verfügung stehende Insolvenzmasse insgesamt verkürzt und fehlt damit nicht nur für die Befriedigung des Klägers, sondern für die Entschädigung aller Anleger. Dementsprechend muss nach dem Normzweck des § 92 Satz 1 InsO ein Schadensersatzanspruch wegen der in Rede stehenden Begünstigung nicht nur einem einzelnen Anleger, sondern anteilig allen Insolvenzgläubigern zugutekommen.

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

Es gibt eine weitere Entscheidung des BGH vom selben Tage zu dieser Thematik: III ZR 11/20.

 

InsbürO 2022, 447 f.: Zum möglichen Haftungsanspruch gegen Insolvenzverwalter wg. Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses trotz drohender Masseunzulänglichkeit

LAG Thüringen, Urt. v. 29.03.2022 – 5 Sa 7/22, WKRS 2022, 19288 (n. rkr.)

Aus der Begründung:

Die Schadensersatzpflicht nach § 61 InsO wird für den Fall angeordnet, dass der Insolvenzverwalter in Kenntnis der drohenden Masseunzulänglichkeit weitere Masseverbindlichkeiten begründet und damit pflichtwidrig handelt. Dabei ist der Gläubiger so zu stellen, wie er ohne die Masseverbindlichkeit begründende Handlung stünde. … Die Pflicht des Insolvenzverwalters, der erkennen kann, dass er die Verbindlichkeit aus einem von ihm aufrechterhaltenen Arbeitsverhältnis nicht (voll) aus der Masse wird erfüllen können, geht dahin, den Arbeitsvertrag zu kündigen, nicht aber dahin, die Erfüllung des Vertrages, d.h. die Zahlung des Arbeitsentgelts persönlich zu garantieren. Der Kläger kann ggf. nur verlangen, so gestellt zu werden, wie er stünde, wenn der Beklagte das Arbeitsverhältnis nicht pflichtwidrig fortgeführt hätte. Er hat weder vorgetragen, dass er seine Arbeitskraft im Januar und Februar 2016 anderweitig gegen Entgelt hätte einsetzen können. Noch hat er vortragen, dass ihm für den Zeitraum Arbeitslosengeld entgangen ist.


Anmerkung: Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen

Gegen das Urteil wurde Nichtzulassungsbeschwerde eingereicht. Das Verfahren ist zum Zeitpunkt der Druckfreigabe beim BAG unter dem AZ: 6 AZN 321/22 anhängig.

 

Allgemeines

InsbürO 2022, 448: Kein Informationszugang des Insolvenzverwalters zu steuerlichen Daten der Finanzbehörden über den Insolvenzschuldner

BVerwG, Urt. v. 25.02.2022 - 10 C 4/20, ZInsO 2022, 1605

Vier von sechs amtlichen Leitsätzen:

  1. Durch § 32e AO werden die in den §§ 32a bis 32d AO vorgesehenen Beschränkungen des Auskunftsanspruchs aus Art. 15 DSGVO mittels Rechtsfolgenverweisung auf Informationszugangsansprüche erstreckt, die sich aus den Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes oder der Länder ergeben.
     
  2. Art. 23 Abs. 1 Buchst. j DSGVO steht einer nationalen Regelung, die Beschränkungen von Betroffenenrechten und von Informationspflichten im Interesse der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche von Behörden vorsieht, nicht entgegen.                     
     
  3. § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO ist nach seinem Sinn und Zweck dahingehend zu verstehen, dass die Formulierung "geltend gemacht" auch "noch geltend zu machende" bzw. "mögliche" Ansprüche umfasst.
     
  4. § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO kann auch auf Art. 23 Abs. 1 Buchst. e DSGVO gestützt werden.
     

Anmerkung Insolvenzsachbearbeiterin Michaela Heyn, Ahlen:

In der Pressemitteilung des BVerwG zu dieser Entscheidung heißt es auszugsweise wie folgt: „Während des Revisionsverfahrens ist im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) auch die Abgabenordnung geändert worden. Insbesondere enthält diese nun verschiedene Ausschlussgründe für dem Grunde nach bestehende Ansprüche auf Informationszugang nach den Informationsfreiheitsgesetzen bzw. der DS-GVO. Danach sind die Finanzbehörden nicht mehr neben etwaigen zivilrechtlichen Auskunftsansprüchen Informationszugangsansprüchen nach dem Recht der Informationsfreiheit oder - soweit natürliche Personen als Insolvenzschuldner betroffen sind - nach dem europäischen Datenschutzrecht ausgesetzt. Wegen der insoweit aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu Art. 23 Abs. 1 Buchst. e und j DS-GVO hat der Senat die Verfahren ausgesetzt und ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet. Der Gerichtshof (Az.: C-620/19) hat sich mit Blick darauf, dass es vorliegend um Auskünfte zu juristischen Personen geht, hinsichtlich derer die Datenschutz-Grundverordnung keine Anwendung findet, für nicht zuständig erklärt. … Der Kläger hat keinen Anspruch auf Informationszugang zu steuerlichen Daten der Finanzbehörden. Das Auskunftsrecht besteht deswegen nicht gegenüber einer Finanzbehörde, weil die novellierte Abgabenordnung solche Auskunftsansprüche im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung über zivilrechtliche Ansprüche in Übereinstimmung mit der DS-GVO ausschließt (§ 32e; § 32c Abs. 1 Nr. 2 AO i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Buchst. e und j DS-GVO). Die unionsrechtlichen Öffnungsklauseln in Art. 23 DS-GVO wollen den Schutz wichtiger Ziele des allgemeinen öffentlichen Interesses, etwa im Steuerbereich und die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche sicherstellen.“ Wie die Insolvenzbüros trotzdem Auskünfte – auch gegen Sozialversicherungsträger - erhalten können, haben Grünewald und Lamberty in InsbürO 2022, 273 (Heft 7/2022) erläutert und in InsbürO 2022, 314 (Heft 8/2022) entsprechende Musterschreiben vorgestellt.

 

InsbürO 2022, 448: PKH-Antrag: Beeinflussung der Bewilligung

OLG Saarbrücken, Beschl. v. 17.05.2022 - 5 W 24/22, WKRS 2022, 26874


Amtlicher Leitsatz:

Zur Mutwilligkeit einer beabsichtigten Insolvenzanfechtungsklage, wenn der Verwalter nach Versagung von Prozesskostenhilfe für die Gesamtforderung seine Ansprüche im Beschwerdeverfahren ohne nachvollziehbaren Grund auf einzelne Rechtshandlungen beschränkt und dadurch die wirtschaftlichen Voraussetzungen des § 116 Satz 1 Nr. 1 ZPO erst herbeiführt.

 

InsbürO 2022, 448 f.: Keine Insolvenzantragspflicht bei Führungslosigkeit einer englischen Limited

KG, Urt. v. 10.08.2022 – (4) 161 Ss 104/22 (115/22), ZInsO 2022, 1860

Leitsatz des Gerichts:

§ 15a Abs. 3 InsO ist auf eine englische Limited nicht anwendbar.

Aus der Begründung:

Das LG hat diesen Grundsatz … zu Recht angewandt, da das dem Angeklagten zur Last gelegte Verhalten nicht strafbar ist. § 15a Abs. 3 InsO - und damit auch die Strafnorm des § 15a Abs. 4 bis 6 InsO - ist auf eine Limited nach englischem Recht nicht anwendbar. … Durch das Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) vom 23.10.2008 (BGBl. I S. 2026) wurde sowohl die Regelung der Insolvenzantragspflicht in § 15a InsO als auch die Regelung des Insolvenzantragsrechts bei Führungslosigkeit in § 15 Abs. 1 Satz 2 InsO in die Insolvenzordnung eingefügt. Wenn der Gesetzgeber bei einer solchen einheitlichen Regelung sowohl in § 15 Abs. 1 Satz 2 InsO als auch in § 15a Abs. 1 InsO jeweils von juristischen Personen spricht, in § 15a Abs. 3 InsO hingegen enumerativnur von der Gesellschaft mit beschränkter Haftung, der Aktiengesellschaft und der Genossenschaft, ist - auch wenn die Gesetzesmaterialien zu den Gründen der Differenzierung schweigen - auszuschließen, dass in § 15a Abs. 3 InsO andere als die dort mit ihren jeweiligen gesellschaftsrechtlichen Bezeichnungen ausdrücklich angeführten juristischen Personen gemeint sein könnten und insbesondere der Begriff der Gesellschaft mit beschränkter Haftung als Gattungsbegriff verwandt worden ist.

 

Über Uns.

Ein Zusammenschluss von langjährig tätigen Insolvenzverwaltern und Restrukturierungsexperten.

MEHR ERFAHREN